Schrei nach Kunstfreiheit
In Kuba regiert seit dem Frühjahr mit Miguel Díaz-Canel ein Präsident, der nicht zum Castro-Clan gehört. Viele Kubaner hatten sich davon mehr Freiheit versprochen. Doch vor allem für die Kulturszene gilt das Gegenteil: mehr Normen, Repressalien und Strafen.
Menschenauflauf in einer Straße von Alt-Havanna. Die Menge protestiert gegen Polizisten, die Künstler verhaften, weil sie in einer Privatwohnung an einem Konzert teilnehmen wollen, einer Veranstaltung der Aktion "Kultur ohne Erlaubnis von § 349". Inis Ruiz, ihre Sprecherin:
"Das Gesetz des Kulturministeriums besagt, dass die Verbreitung von Liedern, die nicht den neuen Normen entsprechen, bei Strafe untersagt ist, dass alle neuen Lieder genehmigt werden müssen, dass jederzeit Inspektoren die Ausrüstung der Musiker, die dagegen verstoßen, konfiszieren dürfen."
Es kommt eher selten vor, dass Kubaner gegen eine Polizeiaktion aufbegehren, denn sie müssen mit Repressalien rechnen. In diesem Fall waren es Nachbarn, die Luis Manuel Otero Alcántara beistehen wollten, einem der bekanntesten Aktivisten der Bewegung unabhängiger Kunst. Sie hat in den letzten Jahren an Dynamik zugenommen, seit der Staat privaten Aktivitäten einen größeren Spielraum gewährt.
Zensur durch die staatlichen Behörden
Durch den Paragraphen 349 sehen die Künstler ihre Existenzgrundlage gefährdet. Denn er verlangt:
Sprecher: Alle Musikveranstalter, auch die von Bars und Clubs, dürfen nur Musiker beschäftigen, die dafür vom Kulturministerium oder den staatlichen Arbeitsagenturen autorisiert wurden. Auch Künstler, die ihre Werke, Bilder, CDs, Videos, verkaufen wollen, brauchen dafür eine staatliche Erlaubnis. Außerdem dürfen in audiovisuellen Arbeiten "vaterländische Symbolträger" wie die Nationalflagge, die Nationalhymne oder Nationaldichter wie José Martí nicht mehr in einem "ihrer Bedeutung abträglichen" Zusammenhang gezeigt werden. Vulgäre oder sexistische Ausdrücke, überhaupt jede Diskriminierung menschlicher Wesen ist verboten.
Von diesen rigorosen Auflagen sind besonders die unabhängigen, die kritischen Kulturschaffenden betroffen, die nicht zum Zirkel der offiziell gewünschten Kultur zählen. In ihrer Empörung scheuen sie nicht vor drastischen Aktionen zurück. Vor dem Capitolio in Havanna schreit Luis Manuel Otero Alcántara nach Freiheit und Schluss mit der Zensur. Drei Polizisten ergreifen ihn und versuchen ihn in ein Fahrzeug zu sperren. Kurz darauf erscheint eine junge Frau und übergießt sich mit Fäkalien. Auf dem Video, das die Aktion festhält, erklärt ein Schriftzug die Aktion: "Das Regime betrachtet uns unabhängige Künstler als die letzte Scheiße."
Ein Offener Brief für die Kunst
Sprecher: "Die Normen, die das neue Gesetz uns auferlegt, beschneiden die Kreativität des kubanischen Volkes, kriminalisieren die unabhängige Kunst und beschränken die Fähigkeit zu definieren, was ein Künstler ist, auf eine staatliche Institution."
So heißt es in einem Offenen Brief, den namhafte Künstler und Künstlerinnen wie Tania Bruguera an den neuen Präsidenten Díaz-Canel gerichtet haben. Darin verweisen sie auf ein Motiv für die Verschärfung der Zensur: den kritischen Charakter jeder unabhängigen Kunst.
Sprecher: "Die Geschichte der Künste beweist, dass das Infragestellen etablierter Denksysteme der Motor ästhetischer Entwicklung ist."
Vergebliche Hoffnungen auf eine tolerantere Politik
Dabei hatten doch viele Kubaner im Frühjahr gehofft, dass der neue Staatspräsident eine etwas tolerantere Politik als Vorgänger Raúl Castro einschlagen und dass auch die neue Verfassung dafür sorgen könnte. Doch der Generationswechsel an der Spitze des Staates hat in der Kulturpolitik das Gegenteil bewirkt. Er markiert einen Rückfall in die Anfangszeit der Revolution. Damals dekretierte Fidel Castro in seinen berühmten "Worten an die Intellektuellen":
Sprecher: "Für die Revolution alles, gegen die Revolution nichts!"
Diese vor mehr als einem halben Jahrhundert scharf gezogene Grenze intellektueller Freiheit hat die neue Regierung wieder errichtet. Nur muss es jetzt heißen:
Sprecher: "Für das System alles, gegen das System nichts."
Das Regime gibt sich nach außen gemäßigt, hat die Spitze verjüngt und eine vorsichtige Verfassungsreform in Gang gesetzt, über die die Bevölkerung sogar diskutieren und abstimmen darf. Dafür wurden nach innen die Zügel fester gezogen, denn die Kontrolle über die zahllosen, unabhängig vom Staat gewachsenen gesellschaftlichen und kulturellen Aktivitäten darf keinesfalls verloren gehen.
Der Widerstand ist nicht gebrochen
Doch rigorose Maßnahmen oder Schikanen konnten in Kuba noch nie den Widerstand der Kulturschaffenden brechen. Das demonstrieren die namhaftesten Rapper des Landes mit einem Musikvideo, in dem sie alle persönlich auftreten und die Regierung und ihre Zensur vehement attackieren – ohne Erlaubnis von Paragraph 349.