Ein bisschen Pathos für die Demokratie
05:08 Minuten
Der US-amerikanische Künstler John Quigley entwirft gemeinsam mit Hunderten Menschen Skulpturen, die aus der Luft betrachtet politische Botschaften vermitteln. Nun entsteht vor dem Reichstag ein riesiges lebendiges Menschenbild für die Demokratie.
"Ich denke, Schönheit wird als Instrument eines positiven Einflusses auf die Gesellschaft oft übersehen. Wenn Menschen gemeinsam etwas Schönes erschaffen, geht es direkt ins Herz und bewegt sie."
Der US-amerikanische Künstler John Quigley ist eine eindrucksvolle Erscheinung. Er ist etwa zwei Meter groß und schaut einen von seiner Vogelperspektive aus mit sanften Augen an. Immer scheint er das große Ganze im Blick zu haben, und genau das macht auch seine Kunst aus. In einem urbanen Hinterhof in Berlin Mitte erklärt er die von ihm geprägte Kunstform, während in nur wenigen Metern Entfernung die S-Bahn vorbeirauscht.
"Aerial Art ist ein Prozess. Wir erschaffen Formen in der Landschaft, deren wahre Identität nur aus der Luft, aus der Vogelperspektive erkannt werden können. In der Regel versammeln sich Tausende Menschen in einer Form – als Kunstwerk, wenn Sie so wollen – und das Ganze wird aus der Luft fotografiert."
Jeder soll mitmachen können
Mehr als 200 dieser menschlichen Installationen hat John Quigley bereits geschaffen. Auf sieben Kontinenten haben um die 200.000 Menschen daran teilgenommen. Er hat mit Umwelt-Organisationen zusammengearbeitet und mit Indigenen.
Von oben gesehen ergeben die von ihm angeleiteten Menschen einfache Botschaften und sollen aufmerksam machen, auf Themen wie soziale Ungerechtigkeit, den Klimawandel oder die Verschmutzung der Ozeane. An die Kunst ist Quigley durch sein politisches Engagement gelangt.
"In der Schule hatte ich Theaterunterricht, aber wirklich dazu gekommen bin ich durch den Aktivismus. Es gibt Kundgebungen, Märsche und verschiedene traditionelle Formen des Aktivismus. Aber was mir fehlte, war etwas, an dem jeder teilnehmen kann. Wir haben uns gefragt: Würde eine Mutter mit einem Kinderwagen zu dieser Veranstaltung kommen? Und für diese Aerial-Art-Installationen haben wir festgestellt. Die Antwort lautet: Ja."
Nur kollektiv ergibt sich ein Bild
In Berlin vor dem Reichstag plant John Quigley jetzt ein riesiges lebendiges Menschenbild für die Demokratie. Seine Kunstaktion begleitet das Modellprojekt "Bürgerrat Demokratie", bei dem 160 Bürgerinnen und Bürger Lösungsvorschläge für aktuelle politische und gesellschaftliche Probleme einbringen. Bevor diese heute in einem offiziellen Akt der Politik übergeben werden, sollen sich Tausende Menschen vor dem Reichstag treffen.
"Es ist die perfekte Kunstform, um eine Botschaft über die Demokratie zu senden", sagt der Künstler. "Denn wenn auch nur eine Person fehlt, kann die Botschaft nicht entstehen. Wir sind im wahrsten Sinne nicht eine Person. Es ist nicht so, als würde ich das Bild erschaffen, sondern jede einzelne Person, die teilnimmt, ergibt das Bild kollektiv. Und ziemlich genau darum geht es beim demokratischen Ideal – jeder einzelne von uns macht einen Unterschied."
Demokratie nicht als selbstverständlich ansehen
Die Organisatoren des Bürgerrats haben sich von den irischen "Citizen’s Assemblies" inspirieren lassen. Bereits in zwei Fällen haben die Empfehlungen der Bürgerräte dort zu Verfassungsänderungen geführt. Mehr Bürgerbeteiligung – das ist eine Vision, die John Quigley teilt.
"Das Gefährlichste ist, wenn die Bevölkerung schläft, wenn sie die Freiheiten der Demokratie als selbstverständlich ansieht. Also ist es unser Job, unaufhörlich involviert zu bleiben. Genau das gefällt mir so an dem, was ‚Mehr Demokratie‘ macht: Wir müssen uns permanent engagieren, am Prozess teilnehmen, sonst schlafen die Menschen – und dann ist es viel leichter für jemanden, vorbeizukommen und die Bevölkerung zu manipulieren. Das ist also nur ein weiterer Weckruf. Demokratie ist ein täglicher Vorgang und es ist wichtig, dass jeder einzelne von uns an diesem Vorgang teilnimmt, um sicherzustellen, dass unsere Freiheit wächst."
Von der Gemeinschaft spricht John Quigley immer wieder. Für ihn bedeutet Gemeinschaft nicht, bei Facebook auf Like zu drücken, sondern körperlich anwesend zu sein, Freunden und Fremden zu begegnen, sich zu erinnern, dass wir alle Menschen sind, die auf demselben Planeten leben und dieselbe Luft atmen.
Manchmal klingt das, was er sagt, ein bisschen pathetisch. Aber vielleicht ist es genau das, was wir jetzt brauchen: ein bisschen Pathos für die Demokratie.