Künstlerexistenzen im 19. Jahrhundert

Für uns heutige Betrachter sind die flirrenden, sonnendurchfluteten Landschaften und Stadtansichten der Impressionisten geradezu der Inbegriff des Schönen. Anlässlich des Gastspiels verschiedener Gemälde des New Yorker Metropolitan Museums in der Berliner Neuen Nationalgalerie zeichnet Sue Roh in "Das private Leben der Impressionisten" den Weg von Monet, Degas oder Renoir nach.
Im Jahr 1875 soll im Pariser Auktionshaus Drouot ein impressionistisches Werk der Malerin Berthe Morisot versteigert werden – die Künstlerin ist im Saal. Der Auktionator hält das Bild hoch – jemand im Saal brüllt: "Hure!" Der Maler Camille Pissarro springt auf den Schreihals zu und verpasst ihm eine kräftige Ohrfeige. Der Auktionator ruft die Polizei. Eine Szene, die mit einem Schlag in das Klima der künstlerischen und sozialen Debatten im Paris des späten 19. Jahrhunderts versetzt. Die britische Literaturwissenschaftlerin Sue Roe schildert sie in ihrem Buch "Das private Leben der Impressionisten".

"Wir alle kennen die Bilder – aber kennen wir das Leben der Impressionisten?" So heißt es in der Presseankündigung des Verlags, der auf diese Weise intime Einblicke in ein Leben hinter dem Werk verspricht. Man kann die Frage ziemlich klar beantworten: Wenn nicht "wir", dann kennen doch zumindest die Kunsthistoriker das Leben von Monet und Pissarro, Manet und Degas, Renoir und Cézanne heute ziemlich genau. Regalmeterweise stehen biographisch oder sozialgeschichtlich ausgerichtete Werkmonographien zur Auswahl, in denen wir nachlesen können, aus welchen wohlhabenden Elternhäusern fast alle Impressionisten stammten - eine Ausnahme bildete Auguste Renoir als Sohn eines Arbeiters; mit welchen Literaten, Freigeistern und Prostituierten die Künstler in welchen Cafés verkehrten; unter welchen Bedingungen sie im Atelier und in der freien Natur arbeiteten, wie sie lebten und sogar wen sie liebten. Kein Wunder: Das freie, zügellose Leben der Pariser Künstler-Bohéme hat gerade auch die sittenstrengere bildungsbürgerliche Leserschaft von Anfang an fasziniert – da konnten die Kunsthistoriker noch so sehr die strikte Trennung von Leben und Werk einfordern, am breiten Publikum ging das von Anfang an ziemlich vorbei.

Neu ist also nicht, was Sue Roe inhaltlich bietet - davon zeugen schon ihre Fußnoten, die stets auf bereits publiziertes Material verweisen – aber neu erzählt ist es allemal. Dass die Autorin ihre Studenten an der University of Sussex in "Kreativem Schreiben" unterrichtet, ist diesem Buch deutlich anzumerken. Gleich am Anfang der Geschichte werden zwei Ankunftsszenen literarisch äußerst wirkungsvoll kontrastiert: Die Ankunft des Kunsthändlers Paul Durand-Ruel in New York im Jahr 1886 mit 300 impressionistischen Gemälden im Gepäck. Und die Ankunft des zwanzigjährigen Claude Monet aus der kleinen Hafenstadt Le Havre in Paris im Februar des Jahres 1860. Zwischen der ersten Begegnung der jungen Kunststudenten Claude Monet und Camille Pissarro in einem kleinen Pariser Mansarden-Atelier und dem triumphalen Durchbruch der Impressionisten in Amerika sechsundzwanzig Jahre später spannt Sue Roe die Netze ihrer Geschichte aus. Dazwischen liegen - wie bei jeder anständigen Erfolgsgeschichte - harte Jahre des Kampfs um Anerkennung, Rückschläge, finanzielle und familiäre Nöte und Krisen.

Spannend und unterhaltsam liest sich das über weite Strecken: Wenn der scharfzüngige Edgar Degas in den Cafés von Montmartre bei Wortgefechten brilliert. Wenn der geschäftstüchtige Claude Monet neue Strategien zur Vermarktung der Werke ausbrütet. Wenn die Künstler fassungslos und maßlos enttäuscht vor der aggressiven Ablehnung von Kritik und Salonpublikum stehen. Das liegt auch daran, dass Sue Roe nicht versäumt, ihren Lesern anschaulich zu erläutern, über welche akademischen Standards sich die Maler in ihren Werken hinwegsetzen: Manets nackt auf dem Divan ausgestreckte "Olympia", die sich schon am koketten Wippen ihres gelben Pantoffels als "Professionelle" zu erkennen gibt. Pissarros flirrende Pinselhiebe, die akademische Vollkommenheit aufsprengen. Die flüchtige Wahrnehmung des modernen Alltags, die nicht nur die akademische, sondern auch die soziale Ordnung stört. Der Autorin gelingt es oftmals gut, Biographisches mit interessanten Informationen zur Sozial- und Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts zu verbinden: Die Entwicklung des Kunstmarkts, die Suche der Künstler nach Ausstellungsforen jenseits des Salons, das Auftauchen der zentralen Figur des Kunsthändlers – all das wird nicht trocken referiert, sondern über die Hoffnungen und Enttäuschungen der Künstler vermittelt - erzählt eben.

Soweit – so leserfreundlich. Und trotzdem kann man sich bei der Lektüre dieses Buchs auch ärgern: Dass die diversen Affären, Liebschaften und Ehen der Künstler hier einen großen Raum einnehmen, ist angesichts der Faszination, die von die Bohème noch heute ausgeht, nur zu verständlich. Es ist auch interessant, zu lesen, mit welchen geheimen Winkelzügen die Mutter von Édouard Manet das uneheliche Kind ihres Sohnes vor der öffentlichen Ächtung zu schützen sucht. Oder dass die Malerin Berthe Morisot, die sich sehr frei und unabhängig im männlich dominierten Milieu der Künstler bewegt, mit ihrem offiziellen Verlobten noch nicht einmal einen gemeinsamen Urlaub verbringen kann. Oder mit wie viel Gehässigkeit die Pariser Gesellschaft die Liebschaft von Claude Monet mit der verheirateten Kaufmannsgattin Alice Hoschedé bedenkt.

Dennoch: Die Art und Weise, in der sich Sue Roe diesen Liebeswirren widmet, überschreitet die Grenze zu Kitsch und Kolportage oftmals weit. Die Reize diverser "exotischer", "heißblütiger" Schönheiten werden geradezu mit der Emphase der Augenzeugin geschildert. Und den Malern wird tief und hochgradig spekulativ ins Künstlerherz geblickt. Wer das lesen will, der greife doch lieber zu Balzac oder Zola.

So trägt Sue Roe hier viel Interessantes sehr unterhaltsam zusammen. Sie führt aber auch eindrucksvoll vor, warum das Misstrauen vieler Historiker gegen das Genre der Künstlerbiographie berechtigt ist. Der Kunstgeschichte des Impressionismus wird sie so nicht gerecht – seiner unternehmerischen Erfolgsgeschichte aber durchaus.

Rezensiert von Alexandra Mangel

Sue Roe
Das private Leben der Impressionisten,

Parthas Verlag/ Berlin 2007
aus dem Englischen von Dominik Fehrmann
448 Seiten, 19,80 Euro.