Künstlerglück mit Festanstellung

Von Gerd Brendel |
Seit zwölf Jahren begleitet der Kanadier John Nijenhuis als Sir Henry musikalisch an der Berliner Volksbühne Theaterabende - mal an der Hammond-Orgel, mal am Flügel. Der Erfinder der "geschmacksfreien" Musik trieb sich vorher in der Off-Szene Torontos herum und kreuzte ohne Scheuklappen fröhlich Verdi mit Celine Dion, Spätromantik mit Bossa Nova.
Ein großer Raum irgendwo im tiefen Osten von Berlin. Der Regisseur Dimiter Gotscheff probt das "große Fressen" fürs Theater. Überall liegen Essensreste. Ein Darsteller schleppt ein Schaumstoff-Schwein mit sich herum. Ein anderer steht am improvisierten Küchentisch und Herbert Fritsch in der Rolle des Philipe plagen die ersten Vorboten der tödlichen Flatulenz. Die Schauspieler sind in Höchstform . Mit einem Mal bellt der Regisseur ein Kommando Richtung Klavier.

"John, spielen!"

Und der Mann am Klavier spielt los. Irgendwas zwischen Spätromantik, Filmmusik, französischem Chanson und Easy-Listening. Im Programmheft wird er später als "Sir Henry" auftauchen, zuständig für die Musik und …

Nijenhuis: "Dieses Ironie-Zeugs."

Dieses Ironie-Zeugs ist zum Markenzeichen von John Henry Nijenhuis geworden und das Endergebnis eines 30-jährigen Musikerlebens mit vielen durchwachten Nächten. Am Morgen nach der Probe sitzt John am Küchentisch seiner Prenzlauer Berg Hinterhofwohnung und sieht nach sehr wenig Schlaf aus - wie fast immer. Die Augenringe gehören zu ihm, wie der ironische Sound - ein Buster Keaton am Klavier mit sehr vielen Falten. Seine Ausbildung begann der Kanadier aus einer niederländischen Einwandererfamilie, wie es sich für einen Berufsmusiker gehört: früh mit Zwölf:

"In Quebec es war möglich damals für wenig Geld Privatlehrer zu nehmen. Ich bin aufgewachsen mit einer sehr warmherzigen schnurrbärtigen Frau namens Olivia Jenkins. Sie war unglaubliche Ofenwärme, neben ihr sitzen zu können. Sie zeigte mir das Warum."

Das "Wie" vermittelten andere Lehrer. Aber für den Berufswunsch "Star" war ein Musikfilm verantwortlich, der Anfang der 80er Jahre in die Kinos kam:

"Dann hatte ich die Erfahrung, ich sah 'purple rain' und 'Ghandi, die haben sich mir so eingeprägt, ich wollte der Gandhi von purple rain werden. Ich verließ die Uni, ich verließ Halifax und kam zurück zu meinen Eltern, die schon umgezogen nach Toronto. Ich unterbrach mein drittes Jahr an der Universität, um Superstar zu werden."

Aber statt in den Charts landete der junge Musiker mit Prince als Vorbild in der Off-Szene von Toronto:

"Es gab wunderbare illegale Salons, wo Promis kamen auf der Suche nach Koks, da hatten wir Satie, Brecht zu lernen, Easy Listening. Und seine Ironien waren das erste 68er-Widerspruch. Man muss sagen, dass die 68er immer eine Sehnsucht nach zutiefst bedeutungsvoller Musik hatten, mit anderen Worten, wir erstickten an Ernsthaftigkeit. Ich war immer zu laut und brachte dieses Ironie-Zeugs. Und das hat ein paar gefallen und ein paar nicht."

John lieh sich einen Frack von einem deutschen Adelsspross, nannte sich fortan "Sir Henry" und entdeckt das, was er später "geschmacksfreie" Musik nennt: Das absolute gleichwertige Benutzen und Mischen der verschiedensten Musikrichtungen, unabhängig von ästhetischem Urteil und Stil: In seinen Piano-Sessions spielte Sir Henry Spätromantik mit Bossa Nova, und improvisierte Verdi zu einer Fuge mit Celine Dion um.

Aber irgendwann hatte John die endlosen Auftritte in Clubs und Hotelbars satt. Der große Erfolg wollte sich für den Erfinder der "geschmacksfreien" Musik nicht einstellen.

"In '94 hatte ich einen Nervenzusammenbruch, weil ich hatte mich so herumgetrieben, ich wollte erfolgreich sein und ich wollte glücklich sein, aber mit meiner Programmierung wurde ich weder erfolgreich noch glücklich."

Da erreichte ihn eine Einladung der Performance-Künstlerin Laura Kekauka, die mit ihrem Kunst-Kneipen Projekt "Schmalzwald" die Berliner Off-Szene in Erstaunen versetzte.

"Berlin damals 1996 hatte so eine demokratische Einprägung, keiner ist berühmt, Gott sei dank endlich mal - aber alle sind Kult, Gott sei dank endlich mal, also es war eine Einladung, Nichts erfolgreiches zu wollen, und der Witz daran war, dass innerhalb von zwei Monaten bekam ich diesen Vertrag bei der Volksbühne ."

Als Virtuose für geschmacksfreie Musik an der Hammond-Orgel in einem Theaterstück. Es blieb nicht bei der einen Produktion. Zu vielen Inszenierungen des Volksbühnen-Intendanten Frank Castorf hat er den Soundtrack "zusammengesamplet." John Nijenhuis ist im Künstler-Alltag mit Festanstellung angekommen: Morgens Proben, abends Vorstellung, lange Nächte mit den Kollegen in der Kantine, die Feiertage bei den Eltern der Freundin und die Zeit dazwischen am heimischen PC und Keyboard auf der Suche nach neuen, alten geschmacksfreien Musiken für das neue Stück:

"Hier das Thema rein, normal, es ist tragisch... und es ist ein französischer Film: man nehme ein bisschen DeFunes, Ei, Mehl etc. Hier kommt eine andere Vision, und jetzt benutzen wir das selbe Thema in einer Art Ouvertüre."

Vermutlich wird er zur Premiere wieder den Frack mit den extra langen Schößen tragen, in dem er schon so oft aufgetreten ist, als Sir Henry. Und wenn er dann am Flügel die Blähungen seiner Schauspielerkollegen mit seinen musikalischen Gemeinheiten pariert, wird das so aussehen und so klingen wie eine sehr böse Karikatur eines großen Pianistentraums.

"Ich bekomme nie, was ich will, aber immer, was ich brauche."

sagt Sir Henry alias John Nijenhuis zum Abschied und lächelt dabei.