Ganz rechts Rudolf von Laban in cognacfarbenem, um den Körper drapiertem Gewand und mit einem Tuch um den Kopf. An der siegreich erhobenen Hand hält er eine nackte Tänzerin, die Hüfte wiegend, den Torso zur eleganten S-Form gebogen, das rechte Bein leicht nach vorne und schräg gestellt. Sie ist sehr braungebrannt, anders als ihre Kollegin links von ihr, die eine ähnliche geschwungene Position einnimmt, aber ganz weiße Haut hat und aus einem Jugendstilgemälde entsprungen scheint. Die Gruppe, zu der noch weitere Personen in Bewegung gehören, signalisiert: Freie Körper, freie Bewegung. Licht, Luft, Leben, Sonne!
Auf der Suche nach dem Rhythmus des Lebens
"Für mich bedeutet Contact Improvisation: in einem öffentlichen Raum zusammen sein und zusammen tanzen – und zwar mit allen, die dabei sein wollen, auch mit den seltsamsten Typen. In den Contact Improvisation-Sessions verhandeln wir jedes Mal aufs Neue, wie wir zusammenkommen und was wir machen wollen. Das fasziniert mich auch nach all’ den Jahren immer wieder! Jeder kann kommen und mitbringen, was er hat, was er ist, was er will. Das macht die Schönheit und Lebendigkeit dieser Art zu tanzen aus."
Ponderosa auf einem ehemaligen LPG-Gelände
Der kleine Ort Stolzenhagen liegt kurz vor der polnischen Grenze, inmitten hügeliger Landschaft am Rande eines Natur- und Vogelschutzgebiets. Autoverkehr hört man kaum, die Straße endet hier; wer weiter will zur Oder, muss zu Fuß gehen oder das Fahrrad nehmen. Die Stille in Stolzenhagen – sie ist unbeschreiblich.
Ein Ort der bunten Mischung
Heute kommt in der großen Gemeinschaftsküche eine bunte Mischung von Leuten zusammen: erfahrene Choreografen wie Peter Pleyer, angehende Tanzkünstlerinnen, junge Kunsthochschulabsolventen. Leute, die lange auf der Bühne gestanden oder ihr Leben lang selbst unterrichtet haben, aber auch viele, die professionell gar nichts mit Tanz zu tun haben, sich aber leidenschaftlich gerne bewegen.
Es geht undogmatisch, aber nicht ohne Regeln zu: In gut organisierten Schichten wird vegetarisch und vegan gekocht und zu festen Zeiten gemeinsam gegessen. Die Workshops und Tanzsessions aber können schon einmal die ganze Nacht dauern.
Der Mensch als Künstler – und Tänzer
Den 1879 in Pressburg geborenen Laban führte sein unstetes Leben an zahlreiche Orte, unter anderem in zwei Künstlerkolonien, die Geschichte geschrieben und – bei allen Unterschieden jede auf ihre Art – Ähnlichkeiten mit Ponderosa haben: das britische Dartington Hall im Südwesten Englands und der Monte Verità, den berühmten Schweizer "Berg der Wahrheit" in der Nähe des Städtchen Ascona, zu dessen Füßen sich der Lago Maggiore erstreckt.
1913 kam Rudolf von Laban das erste Mal in die Siedlungsgemeinschaft auf dem Monte Verità, die rund zehn Jahre zuvor von den beiden Idealisten Ida Hofmann und Henri Oedenkoven sowie den Brüdern Gusto und Karl Gräser gegründet worden war. Die waren inzwischen verstritten und der Monte Verità hatte schon viele Künstlerinnen und Sinnsucher kommen und gehen sehen. Was blieb, war der beständige Versuch, alternative Lebensgemeinschaften jenseits des städtischen Lebens zu etablieren.
Rudolf von Laban: "Die Leute müssen vor allem aus der Stadt heraus und (...) ein ganz anderes Leben führen. Sie müssen neben der Kunst eine gesunde Arbeit betreiben, am besten Gartenbau oder Landwirtschaft. Die künstlerische Arbeit muss in Form und Inhalt aus der Gemeinschaft herauswachsen, zu der ich sie zusammenführen will."
Heilung, Befreiung von zivilisatorischen Zwängen, Harmonie mit der Natur und dem Kosmos – die Suche nach der Wahrheit, die dem Ort seinen Namen gab, nahm auf dem Monte Verità verschiedene, zum Teil auch obskure und dogmatische Formen an, vor allem aber wurde sie körperlich betrieben. Ein historisches Foto zeigt eine posierende Tänzerinnengruppe am Lago Maggiore vor der beeindruckenden Kulisse der umliegenden Schweizer Berglandschaft:
Ob es ein Kieselstein war, der in der Sonne blinkte, der wippende Schwanz eines Vogels oder die in der Nacht aufglühenden Augen einer Katze, eine am Weg verlorene Haarnadel, eine zerfallende Mauer oder ein frisch gestrichener Gartenzaun – war man erst einmal offen dafür, so ließ sich alles in Tanz verwandeln. (Mary Wigmann)
Stattdessen setzte Laban auf rhythmische Klänge: Handtrommeln, Tamburine, Gongs, Klappern, Schellen, Kastagnetten und Holzstücke sollten den Bewegungssinn aktivieren, das Körpergefühl sensibilisieren und zur freien Tanzimprovisation anregen. Ziel des Unterrichts war es, impulsiv und ganz aus dem Moment heraus die Tänzerinnen eigene Bewegungsrhythmiken und -dynamiken entwickeln zu lassen.
Die Sommerschule hat die Aufgabe, in alle Äußerungsformen des menschlichen Genius einzuführen und zielt auf eine allseitige, körperlich-geistig-seelische Erziehung.
Im Südwesten Englands liegt das weitläufige Anwesen Dartington Hall – wie Ponderosa und der Monte Verità fernab des urbanen Lebens und ebenfalls auf einer Anhöhe. Der Weg vom benachbarten Städtchen Totnes dorthin führt über die sanften Hügel Devons immer bergauf – mitten durch die Natur mit ihren satten Grüntönen.
"Im Mittelalter war Dartington ein sehr nobles Anwesen. Besucher, die durch den Bogengang in die Große Halle traten, bewunderten die Architektur und dachten oft, das müsse ein wundervolles Kloster oder eine Abtei sein. Aber Dartington war immer ein säkularer Ort. Angelegt wurde das Ensemble um die Große Halle für John Holand, den Bruder Richards des Zweiten – für Turniere, Spiele, Feste und Jagden. Alle, die immer von der Spiritualität Dartingtons schwärmen, irren sich. Dartington war niemals ein religiöser Ort."
Lebensfreunde und Exzentrik in Dartington
Rudolf von Laban kam 1939 nach Dartington – 20 Jahre nachdem er das letzte Mal seine Sommerschule auf dem Monte Verità abgehalten hatte. Er war krank und ausgebrannt, traf aber auf eine Vielzahl von Künstlerkollegen wie die Choreografen Kurt Jooss und Sigurd Leeder, die in Dartington zusammen eine Schule für Tanz eröffnet hatten.
Hier üben bei gutem Wetter Tänzerinnen elegante Schwünge und Schrittfolgen, die Kurt Jooss für seine berühmte Choreografie "Der Grüne Tisch" entwickelt hat. Ihre männlichen Kollegen proben im eigens für den Choreografen gebauten Studio eine der Schlüsselszenen, in der Männer mit Masken anonyme Mächte darstellen, die leichtfertig über das Schicksal von Millionen entscheiden.
Progressiver Ort in konservativen Zeiten
"Das erste, was passierte, als ich mit 13 hier ankam, war, dass ich von meinem Zimmernachbarn eine Zigarette angeboten und gesagt bekam: ´Übrigens, du weißt, dass du hier nicht zur Schule gehen musst?!` Das stimmte aber nicht ganz, es wurde schon erwartet, dass man im Unterricht erscheint – wenigstens ab und zu. Auch sonst gab es einige Regeln, die Wichtigste aber war, die anderen zu respektieren."
Natur, Künste, Landwirtschaft und antiautoritäre Pädagogik – in Dartington existierte alles gleichzeitig und nebeneinander. Doch auch wenn die Elmhirsts mit ihrer Community bei Gästen, Eltern und den eigenen Arbeitern wegen der guten Produktions- und Lebensbedingungen sehr beliebt waren – der Großteil der Nachbarschaft beäugte das Treiben auf dem Hügel mit Misstrauen. Joe Richards:
"Dartington hatte den Ruf eines liberalen, links-gerichteten, nicht-christlichen Milieus, was in den Köpfen einiger Leute automatisch mit dem Kommunismus verbunden war. (...) Alles ´Internationale` hat die Leute in den 20er- und 30er-Jahren misstrauisch werden lassen, nach dem Motto: Vielleicht sind es deutsche Spione oder so etwas."
Darin ähneln sich die Künstlerkolonien von Monte Verità, Dartington und Stolzenhagen: Es waren und sind Orte, an denen Menschen aus urbanen Milieus im ländlichen Raum nach ihrem Rhythmus des Lebens suchen. Und auf den Argwohn der Landbewohner treffen, denen das Treiben oft so fremd ist wie die fernen Metropolen.
Erst Skepsis, dann Akzeptanz
"Als wir hier ankamen, dachten die Leute aus dem Dorf, dass wir ein verrückter Kult sind. Sie waren komplett schockiert, als sie hörten, dass ich Amerikanerin bin und hier leben möchte. Als wir begannen, die Dächer und Häuser zu reparieren, waren sie erst sehr erstaunt, aber dann auch froh. Obwohl es sehr vernachlässigt war, hatte dieses Gut für die Menschen, die hier aufgewachsen waren und gearbeitet hatten, eine große Bedeutung. Das Vertrauen zwischen den Alteingesessen und uns baute sich langsam auf – wir brauchten ja auch Mitarbeiter und hier gab es viele Männer, die den ganzen Tag rumsaßen und Bier tranken, weil sie keine Arbeit hatten. Durch diese Menschen begannen unsere guten Beziehungen zum Dorf – denn sie verbreiteten die Nachricht, dass wir nicht verrückt, sondern ganz ok waren."
Dennoch liegen viele Jahre der Auseinandersetzungen hinter Ponderosa. Wie viel Platz braucht jeder Einzelne? Wie viel Beständigkeit und Ruhe oder Veränderung und Lebendigkeit braucht das Zusammenleben auf dem Land? Die Meinungen darüber gehen auf dem Gut Stolzenhagen heute noch weit auseinander.
Was alle, die von Anfang an dabei waren, miteinander verbindet, ist ihr Pioniergeist. Das urbar-machen des Landes und die Belebung einer vernachlässigten Gegend gehören zu den Gründungsmythen von Künstlerkolonien. Stephanie Maher.
"Auf den ehemaligen Schuttplätzen wächst jetzt der schönste Teil des Gartens. Hier haben wir Walnuss-, Eichen- und Pflaumenbäume, Sanddorn- und alle möglichen Beerensträucher gepflanzt. Es gibt Zucchini, Kartoffeln, Karotten und Kürbis und das Gewächshaus dort drüben ist immer voll mit verschiedenen Tomaten-Sorten. Alles, was hier wächst, ist für unsere Küche, aber wir versuchen, es nicht zu übertreiben."
Soziales Experiment im ländlichen Raum
Sehr unterschiedlich ist, wie streng diese Praxis gehandhabt wird: für Labans Schülerinnen und Schüler waren praktische Tätigkeiten wie Jäten, Umgraben, Anpflanzen, Ernten und Einkochen obligatorisch. Bei Ponderosa dagegen muss niemand im Garten mitarbeiten. Doch viele, die aus der Stadt aufs Land kommen, wollen gerne helfen. Aber – können sie das auch?
"Unsere Besucher kümmern sich darum, die Pflaumen vom Baum zu holen; sie pflücken und lagern alles richtig, aber dann beschneiden sie die Bäume falsch. Oder sie wollen für alle ein nächtliches Ritual abhalten und zertrampeln dabei die jungen Pflanzen. Oder sie säen etwas, was gar nicht in den Garten passt. Wir machen alle so viele Fehler – und ich habe über die Jahre gelernt, das alles geschehen zu lassen."
Die Philosophie Stephanie Mahers ist gekennzeichnet von großer Offenheit und Toleranz. Das Undogmatische, Bewegliche, Fluide hat sie zum leitenden Prinzip Ponderosas gemacht, das, wie andere Künstlerkolonien, auch ein soziales Experiment im ländlichen Raum ist.
"Die Leute kommen hierher und denken, oh, das ist eine tolle Alternative zum Leben in der Stadt – ein Paradies! Aber gleichzeitig beobachten wir, dass urbane Strukturen zu uns zurückkommen und die Leute sagen: Los, lass uns eine Party machen, eine Bar eröffnen, wir brauchen ein Café, warum gibt es keine Läden und so weiter. Natürlich ermutigen wir sie auch, sich mit ihren Ideen einzubringen – und dabei können wir beobachten, dass hier, mitten auf dem Lande, wieder ein soziales Gefüge wie in der Stadt entsteht."
Neben dem künstlerischen Schaffen in Gemeinschaft und Natur verbindet die Künstlerkolonien – bei aller Unterschiedlichkeit – auch das Experimentieren mit seelischen Zuständen durch körperliche Betätigung und die Idee der Reinigung und Heilung durch Tanz und Bewegung.
Wenn in manchen Nächten im großen Studio Ponderosas die sogenannten Hexentänze abgehalten werden, bei denen alle Anwesenden lange gemeinsam im Oval laufen, zu Beginn noch mit leichter, feuriger Energie, zunehmend verschwitzt und schwer atmend, schließlich erschöpft und aufgewühlt von der Dynamik und dem Rhythmus der Live-Musik – dann erinnern diese Erlebnisse, zumindest von Ferne, an Beschreibungen der Festivitäten auf dem Monte Verità. Zum Beispiel das Sonnenfest, das Rudolf von Laban und seine Schülerinnen in einer Augustnacht 1913 – fast genau ein Jahr vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges – inszenierten. Der Schriftsteller und Maler Jakob Flach schrieb damals:
Tänzerinnen und Tänzer huschten durch das Dunkel des Parks, brachen aus dem Dickicht, rissen Efeu von den Ruinen, um sich zu bekleiden und zu bekränzen, trommelten auf hohlen Stämmen, mit leeren Bechern, mit Händen und Füßen zum klatschenden, donnernden, rasenden Trommelschlag – ein Wirbel, ein Sturm, ein Zyklon.
Peter Pleyer beschäftigt sich in seiner künstlerischen Arbeit viel mit Tanzgeschichte; seine Arbeiten untersuchen, in welchen Traditionen zeitgenössische Choreografinnen und Choreografen stehen und zeigen Entwicklungslinien dieser hybriden Kunstformen auf.
Dass nichts ganz neu erfunden, sondern stets Ideen transformiert und neu ausgestaltet werden – mit dieser Gewissheit lebt auch Ponderosa-Gründerin Stephanie Maher.
"Ich liebe die Tradition von Gemeinschaften, die mit Kunst und Leben in der Natur experimentiert haben. Monte Verità ist das am weitesten zurückliegende europäische Erbe, das ich mit Ponderosa in Verbindung bringe, aber auch das Black Mountain College und Dartingon waren große Inspirationen. Ich sehe uns in einer Linie mit diesen Pionieren, für die Körper, Kunst und Natur eine wichtige Rolle gespielt haben."
Es sprachen:
Die Autorin als Erzählerin
sowie:
Cornelia Schönwald, Brigitte Paul, Wolfgang Condrus und Georg Scharegg.
Ton: Jan Fraune
Regie: Clarisse Cossais
Redaktion: Winfried Sträter