Roberto Simanowski ist Kultur- und Medienwissenschaftler und lebt nach Professuren an der Brown University in Providence, der Universität Basel und der City University of Hong Kong als Medienberater und Buchautor in Berlin und Rio de Janeiro. Zu seinen Veröffentlichungen zum Digitalisierungsprozess gehören "Facebook-Gesellschaft" (Matthes & Seitz 2016) und "The Death Algorithm and Other Digital Dilemmas" (MIT Press 2018).
Die Rückkehr des Orakels aus dem Geiste der Mathematik
04:45 Minuten
Seit der Mensch fast überall Daten hinterlässt, ist er zum durchschaubaren Wesen geworden. Algorithmen erfassen unsere Bedürfnisse. Gleich Orakeln werden sie bald unsere Geschicke lenken, meint der Medienwissenschaftler Roberto Simanowski.
Was waren das für Zeiten, als die wichtigste Entscheidung des Lebens dem Zufall überlassen wurde: die Wahl des Partners. Man sah sich an öffentlichen Orten, in der Diskothek, im Café, im Lesesaal, und wusste vom anderen nur zwei Dinge: Dass er oder sie einem gefiel und dass man ein gemeinsames Interesse fürs Tanzen, Kaffeetrinken oder eben Lesen besaß. Klassisch folgte dann die Phase, die einem die Sinne benebelt und das Urteilsvermögen trübt und oft schon weiterreichende Entscheidungen enthielt. Wachte man daraus auf, war es für manches Baby schon zu spät.
Zum Glück leben wir längst in besseren Zeiten. Heute finden sich Menschen statt zufällig an öffentlichen Plätzen organisiert in den Partnerbörsen des Internet. Das hat nichts mit den Er-sucht-Sie-Anzeigen in der Lokalzeitung von einst zu tun, für die man sich immer mit "Mangel an Gelegenheit" entschuldigte. Eine Partnerbörse ist heute Ausdruck weniger der Verlegenheit als des Glaubens an die Wissenschaft. Schritt für Schritt wird hier der Einklang potenzieller Partner geprüft: Bildung und Einkommen, Musikgeschmack und Lieblingshobby, kulinarische und sexuelle Vorlieben.
Bei der Partnersuche nichts dem Zufall überlassen
Am Ende steht eine Zahl, die die "Dating-Effizienz" bestimmt und über den Abschluss von Bekanntschaften entscheidet. Was dann zusammenkommt, sind keine Fremden, die sich erst noch zusammenraufen müssen, sondern Vertraute, die sich nur noch nicht begegnet sind.
Klar, noch muss der Mensch das Ergebnis der Algorithmen bestätigen. Auch das aber wird sich bald ändern. In seinem Buch "Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen" imaginiert Yuval Noah Harari die Zukunft des Datings als Konversation unsrer persönlichen Assistenten.
Klar, noch muss der Mensch das Ergebnis der Algorithmen bestätigen. Auch das aber wird sich bald ändern. In seinem Buch "Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen" imaginiert Yuval Noah Harari die Zukunft des Datings als Konversation unsrer persönlichen Assistenten.
"Die Cortana eines potenziellen Liebespartners", so Harari, "tritt an meine Cortana heran, und die beiden vergleichen Notizen, um zu entscheiden, ob wir zusammenpassen". Fällt der Befund positiv aus, bestellen die Cortanas gleich einen Tisch zur rechten Zeit im richtigen Restaurant.
Das Orakel spricht ständig aus allen Computern
Technisch ist so etwas längst möglich. Aber sind wir auch menschlich schon so weit? Wer sein Leben der künstlichen Intelligenz am Steuer selbstfahrender Autos anvertraut, sollte ihr auch zutrauen, uns gut durchs Leben zu steuern. Oder würden Sie den Rat eines medizinischen Algorithmus ablehnen, nur weil dieser seine Entscheidung nicht erklären und der Arzt sie nicht nachvollziehen kann?
Erleben wir also gerade die Rückkehr des Orakels auf der Basis des Data-Mining? Nicht ganz. Denn beim klassischen Orakel wusste man nie, woran man ist. Wenn es den Athenern angesichts der andrängenden Perser sagt, "Sucht Schutz hinter hölzernen Mauern", musste man erst einmal darauf kommen, dass damit nicht die Mauern der Stadt gemeint waren, sondern die Schiffe einer noch zu bauenden Flotte. Selbst wenn man wollte: Dem klassischen Orakel kann man nicht blind folgen. Es beansprucht die Interpretationskunst seiner Adressaten und zwingt sie so, dem seltsamen Spruch in ihrer konkreten Situation einen Sinn zu geben. Auf diesen Rest an Verstrickung in die eigenen Angelegenheiten verzichten die Cortanas unsrer Zeit.
Erleben wir also gerade die Rückkehr des Orakels auf der Basis des Data-Mining? Nicht ganz. Denn beim klassischen Orakel wusste man nie, woran man ist. Wenn es den Athenern angesichts der andrängenden Perser sagt, "Sucht Schutz hinter hölzernen Mauern", musste man erst einmal darauf kommen, dass damit nicht die Mauern der Stadt gemeint waren, sondern die Schiffe einer noch zu bauenden Flotte. Selbst wenn man wollte: Dem klassischen Orakel kann man nicht blind folgen. Es beansprucht die Interpretationskunst seiner Adressaten und zwingt sie so, dem seltsamen Spruch in ihrer konkreten Situation einen Sinn zu geben. Auf diesen Rest an Verstrickung in die eigenen Angelegenheiten verzichten die Cortanas unsrer Zeit.
Zum Unbedingtheitsanspruch des neuen Orakels passt dann auch die neue Verortung. Es spricht nicht länger durch Hexen im Wald oder aus dem Mund einer besessenen Priesterin an einem Hang von Delphi. Es spricht permanent aus all den Computern, die uns begleiten oder wie Amazons Alexa mitten in der guten Stube stehen. Es schafft nicht vom Rande der Gesellschaft aus Ordnung in dieser, es ist die Ordnung, von allen konsultiert, von allen befolgt.
Diese Ordnung ist das Ende der Willensfreiheit im Zeichen der Selbstoptimierung, die Wiederverzauberung der Welt mittels ihrer absoluten Analysierbarkeit. Es ist, als spräche Gott zu uns, durch seine neuen Priester, die Algorithmen. Der Mensch wird wieder Kind, das blindlings dem Vater folgt wie einst im Paradies. Und allwissende Väter überlassen bekanntlich nichts dem Zufall. Nicht, was ihre Kinder essen, nicht, was sie studieren, und schon gar nicht, mit wem sie zusammenleben.
Diese Ordnung ist das Ende der Willensfreiheit im Zeichen der Selbstoptimierung, die Wiederverzauberung der Welt mittels ihrer absoluten Analysierbarkeit. Es ist, als spräche Gott zu uns, durch seine neuen Priester, die Algorithmen. Der Mensch wird wieder Kind, das blindlings dem Vater folgt wie einst im Paradies. Und allwissende Väter überlassen bekanntlich nichts dem Zufall. Nicht, was ihre Kinder essen, nicht, was sie studieren, und schon gar nicht, mit wem sie zusammenleben.