Musik machen mit dem Herrenanzug
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Machine Learning und Künstliche Intelligenz haben auch die Musik erobert. In Berlin experimentieren Forscherinnen und Forscher mit musikalischen Textilien, die auf Körperbewegungen reagieren. Ein Kammerorchester probiert es aus.
Komponist und Dirigent Claas Krause fuchtelt mit den Armen, dreht sich im Kreis, wechselt von einer Position in die nächste. Linker Arm nach oben: Die Musik wird lauter. Den rechten Arm über den Kopf, und es beginnt ein Beat.
Was Claas Krause trägt, ist kein normaler Herrenanzug. Aus der Brusttasche seines Jacketts hängt eine voll verkabelte Festplatte, verbunden mit Sensoren an Schultern, Ellbogen und Rücken, gut erkennbar unter dem transparenten Stoff aus Gaze.
Hier, im "Hybrid Lab" der Universität der Künste zu Berlin (UdK), werden intelligente Textilien erforscht. Die Spezialfähigkeit dieses Anzugs: Bestimmte Bewegungen erkennen und zu Sounds verarbeiten.
Durch Druck Sounds steuern
Gleich mehrere Forscherteams der UdK und des Einstein Center Digital Future haben ihn in Zusammenarbeit mit dem Verwoorner-Krause-Kammerorchester entwickelt, darunter Textilforscherin Berit Greinke:
"In dem Anzug haben wir eine Technik verwendet, die nennt sich 'in situ Polymerisation'. Das ist praktisch ein chemischer Prozess, durch den Stoffe pressure-sensitive gemacht werden können, das bedeutet, dass wir nicht nur textile Knöpfe haben oder textile Trigger, die etwas an- und ausschalten, sondern wir haben über den Druck auf dem Textil eine ganze Range von Values die wir nutzen können, um Sound damit zu steuern."
Dass über Druck Klang erzeugt wird, ist eine Technik, die in der Textiltechnologie schon lange existiert, jedoch selten im Zusammenspiel mit Musikern und schon gar nicht live auf der Bühne verwendet wird. Für die Forscherinnen und Forscher der UdK und des Einstein Centers ist der Anzug damit eine gute Möglichkeit, um wichtige Falldaten zu erheben. Für die Musiker ist es vor allem eine neue Art, Musik zu machen, so Claas Krause:
"Für uns war wichtig, dass wir die Textilie vor allem als Controller einerseits einsetzen und dass wir so etwas wie eine Gebrauchsanweisung dafür schreiben. Dass wir quasi die Komposition nicht als dramaturgischen Faden anwenden, sondern uns eher darauf konzentrieren, dass die Art und Weise, wie man interagiert mit der Textilie, hauptsächlich die Komposition ist."
Die Textilie als Werkzeug
Selbst kreativ wird die KI dabei nicht. Sie ist ausschließlich ein Werkzeug, das dafür sorgt, dass die Klänge nicht zufällig entstehen, sondern genau dann, wenn Dirigent Claas Krause sie anzeigt. Dabei läuft die KI noch nicht perfekt: Sie reagiert zu langsam oder verwechselt Bewegungen. Doch genau dieses Eigenleben macht die musikalische Interaktion für die Forscherteams und die Musiker spannend, so Paul Bießmann, Jazzpianist und einer der Initiatoren des Projekts:
"Eigentlich war es erst mal ergebnisoffen, wir wollten eine Performance machen, wir wollten erstmal forschen und zeigen, wie das funktioniert. Es wird diese Trainingsphase während des Stücks passieren, wir werden einblenden, was passiert, sodass ganz verständlich wird: Was ist das eigentlich. Und ich bin offen, wenn es schief geht."
Mehr als nur ein Showeffekt?
Tatsächlich ist es ungewöhnlich, einer KI im Konzertsaal live beim Lernen zuzuschauen. Es bleibt jedoch abzuwarten, inwieweit der klingende Anzug über den Showeffekt hinaus wirklich neue Sounds und Synergien in der Musik schaffen kann.
Fest steht, dass er als Bestandteil des Instrumentariums des Verwoorner-Krause-Kammerorchesters auch in Zukunft zu hören sein wird – und dass Tools dieser Art den Musikbetrieb und auch das Live-Erlebnis nachhaltig verändern könnten.
Claas Krause würde es begrüßen: "Ich würde mich freuen, wenn mich der Anzug ersetzt, denn Technologie ist kein Feind. Und wenn man überlegt, wie Technologie ein Imperativ wird, sobald sie gut funktioniert, gibt es da für mich gar keinen Ausweg."