Hanno Rauterberg: "Die Kunst der Zukunft. Über den Traum von der kreativen Maschine"
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021
195 Seiten, 16 Euro
Unsicherheit als Reiz der Computerkunst
42:19 Minuten
Algorithmen zählen unsere Schritte, analysieren unseren Musikgeschmack oder unsere Leistung im Job. Und jetzt sollen sie auch noch malen, dichten, komponieren? Der Kunstkritiker Hanno Rauterberg zeigt, was dieser Traum über unsere Zeit verrät.
Eine künstliche Intelligenz (KI) hat Ludwig van Beethovens zehnte Sinfonie vollendet, die der Komponist als Fragment hinterließ. Der Stuttgarter Mathematiker Theo Lutz veröffentlichte bereits 1959 computergenerierte Gedichte, für die er einen Rechner mit Wörtern aus Franz Kafkas Roman "Das Schloss" fütterte. Das New Yorker Auktionshaus Christie's versteigerte 2018 ein Gemälde, das angeblich mit Hilfe von KI geschaffen wurde, für mehr als 400.000 Dollar.
Kreative Potenziale von Maschinen
Der Kunstkritiker und Kulturjournalist Hanno Rauterberg versammelt in seinem Buch "Die Kunst der Zukunft" noch viele weitere Beispiele dafür, wie derzeit mit kreativen Potenzialen der KI experimentiert wird. Beginnt mit digitalen Technologien also eine neue Epoche der Kunstgeschichte? Kann überhaupt von Kunst die Rede sein, wenn – wie im Fall des bei Christie's versteigerten Bildes – nicht ein Mensch entschieden, sondern eine Maschine berechnet hat, wie das Werk beschaffen sein soll?
15.000 Gemälde aus der Zeit zwischen dem 14. und dem 20. Jahrhundert soll die Pariser Künstlergruppe "Obvious" in ein Programm eingespeist haben, das daraus das Porträt eines fiktiven Mannes generierte. Die Software, auf der das Verfahren basiert, habe jedoch ein anderer Künstler programmiert und frei zur Verfügung gestellt, so Rauterberg.
Schon damit erzeuge das Werk eine hochspannende Verwirrung: Wer kann als sein Urheber gelten? Der Programmierer? Sein Programm? Oder die Künstlergruppe, die ein konkretes Bild damit hervorgebracht und es in den Kunstmarkt eingespeist hat?
Das Privileg der Zweckfreiheit
Unsicherheitslagen dieser Art machen für Rauterberg den besonderen Reiz der Computerkunst aus. KI und Kunst – auf den ersten Blick passe da wenig zusammen: "Computerprogramme sind eigentlich dazu da, Probleme zu lösen, und in der Kunst geht es eher darum, Probleme aufzutun oder sie dort zu sehen, wo andere Leute keine Probleme sehen."
Zudem zeichne sich Kunst durch das Privileg aus, "etwas zu tun, was erst einmal zu nichts nütze ist." Die klassische Definition des Philosophen der Aufklärung, Immanuel Kant, besage, "dass Künstler von dem Zweckdenken der Moderne befreit sind und etwas tun dürfen, was eben, indem es zweckfrei ist, einen Zweck erfüllt."
Digitalisierung des Lebens als Kunstgenuss
Doch gerade hier mag auch eine Motivation für große Tech-Konzerne ansetzen, sich auf künstlerische Experimente mit KI einzulassen, mutmaßt Rauterberg. Ein Ziel der Unternehmen könne darin liegen, "dass sie die nackte, maschinenhafte Rationalität überhöhen wollen", so dass in gewisser Weise "Computer selber zweckfrei werden".
Für das Publikum eröffne sich damit ein verführerischer Perspektivwechsel: "Wir müssen nicht mehr hinterfragen, was da gerade passiert, die Totaldigitalisierung der Welt, sondern wir dürfen es auch als Kunstwerk goutieren und annehmen."
Der "Traum von der kreativen Maschine" habe eine lange Vorgeschichte in der Kunst des 20. Jahrhunderts, sagt Rauterberg. Verschiedene Strömungen hätten bereits auf eine Überwindung von Genie-Ästhetik, Subjektivität und Einfühlung hingearbeitet, bevor digitale Technologien dafür zur Verfügung standen.
Ausschaltung des Bewusstseins
So habe der Surrealismus verschiedene Verfahren erprobt, um das individuelle Bewusstsein aus dem Schaffensprozess herauszuhalten. Der konstruktivistische Künstler und Bauhaus-Lehrer Lázló Moholy-Nagy wiederum sei mit Vorliebe im Monteursanzug aufgetreten und habe große Hoffnungen in eine von technischer Nüchternheit geprägte Neuausrichtung der Kunst gesetzt:
"Er verkündete: Vor der Maschine ist jedermann gleich, denn die Maschine kennt keine Tradition, und so könnte aus der Standardisierung und Serialisierung ein neuer Weltgeist erwachsen."
In unserer Zeit ist Kreativität allgegenwärtig geworden – einerseits als Versprechen, sich selbst verwirklichen zu können, andererseits als neue Anforderung im Beruf, wo von immer mehr Menschen erwartet wird, dass sie sich kreativ und gestalterisch einbringen. Vor diesem Hintergrund erkennt Rauterberg in den Versuchen, kreative Maschinen zu erschaffen, Fantasien und Sehnsüchte, die über den Bereich der Kunst hinausweisen.
Im Bett mit dem Smartphone
Unser Selbstverständnis als autonome Individuen, die eigenständig denken und selbstverantwortlich handeln, stoße an Grenzen, je mehr KI in alle Lebensbereiche vordringe und uns vor Augen führe, wie berechenbar wir sind. Menschen lassen ihren Schlaf vom Smartphone überwachen, um zu erfahren, ob sie sich gut erholen. Andere testen mit einer App, ob ihre Stimme Anzeichen für depressive Züge verrät.
Das Menschenbild, das wir – gestützt auf die Philosophie der letzten 250 Jahre – gepflegt haben, weiche mehr und mehr einer Sichtweise, wie sie etwa der Historiker Yuval Noah Harari vertrete, so Rauterberg: "Der sagt, wir seien eigentlich auch nur organische Algorithmen, und das Individuum gleiche einem winzigen Chip in einem riesigen System." Für viele Entwickler im kalifornischen Silicon Valley sei genau das eine positive Vision: die Versöhnung von Mensch, Natur und Technik, wie sie bereits die Romantik herbeigesehnt habe.
Ob Utopie oder Schreckens-Szenario: In den Versuchen, KI kreativ zu machen, und ihr damit menschliche Züge zu verleihen, erkennt Rauterberg einen Vorschein dieser Neujustierung unserer selbst.
(fka)
Außerdem in dieser Ausgabe von Sein und Streit:
Kommentar: Wahlentscheidung und Wissensillusion - Das fatale Bauchgefühl
Wissen wir wirklich, was wir zu wissen glauben? Gerade im Wahlkampf wird klar: Oft entscheiden wir nicht anhand guter Informationen, sondern aus völlig anderen Gründen. Philipp Hübl macht sich Gedanken über unsere Wissensillusionen.
Philosophische Orte: Tullia d'Aragona und die Liebe in Florenz
Nur die rein geistige Liebe ist Quelle des Göttlichen: So sahen es einige Renaissance-Denker im Anschluss an Platon. Die Philosophin Tullia d'Aragona hingegen verfasste um 1550 ein Plädoyer für Begehren und Sinnlichkeit, das bis heute nachwirkt. Constantin Hühn berichtet aus Florenz.