Kürzester Tag des Jahres

    Die dunkle Zeit ist ein Geschenk

    Eine Kerze brennt in der Dunkelheit.
    "Ich will raus, andere finden, mit denen ich meine Dunkelliebe teilen kann", sagt Maria Lang. © Deutschlandradio / Maria Lang
    Von Maria Lang |
    Am kürzesten Tag des Jahres freuen sich viele Menschen, dass es bald wieder heller wird. Nicht nur draußen, auch im Gemüt. Unsere Autorin wünscht sich dagegen mehr Dunkelheit. Sie hat sich einem Experiment unterzogen.
    Bald geht's wieder bergauf. Seit Wochen höre ich das ständig. Wie glücklich über das Ende einer Krise reden Menschen in meiner Nähe davon, als würden sie nun endlich gerettet. Es geht ihnen nicht um das Ende dieses unfassbaren Jahres 2016. Sie reden vom kürzesten Tag des Jahres, so als würde das Leben endlich leichter, wenn die Tage wieder länger werden.
    Und ja, da ist schon was dran. Die Wissenschaft ist auf ihrer Seite. Denn längere Tage bringen mehr Sonnenlicht und das hat einige Vorteile für uns: Mehr lebenswichtiges Vitamin D, mehr von dem Glücks- und Wohlfühl-Hormon Serotonin. Außerdem erwärmt uns die Sonne und Wärme steigert die Empathie.
    Mehr Sonnenlicht bedeutet auch, mehr gut ausgeleuchtete Bilder für unsere hungrigen Netzhäute. Wir sind nun mal Augentiere. Etwa 80 Prozent aller Sinneseindrücke empfangen wir sehend. Bei nur etwa acht hellen Stunden am Tag brauchen wir viel Kunstlicht, um die Lust auf Visuelles zu befriedigen.
    Licht ist hell, ist gut. Wenig Licht, kein Licht ist schlecht. Ist es wirklich so einfach? Ich denke, die kurzen Tage geben uns die Chance, anders wahrzunehmen, vor allem anders zu sehen. Die Zeit der Dunkelheit ist ein Geschenk für alle, die es mal halten wollen wie der kleine Prinz, der fand: "Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar."

    Die kommende Nacht vom 21. auf den 22. Dezember ist die längste Nacht des Jahres. Um genau 11.44 Uhr erreicht die Sonne heute den tiefsten Punkt ihrer Jahresbahn, die Winter-Sonnenwende tritt ein. Ein besonderer Tag, der seit heidnischen Zeiten traditionell gefeiert wird. Deshalb treffen sich mehrere Tausend Menschen in Stonehenge, der englischen Kultstätte. Hören Sie hier die Reportage von Stephanie Pieper, ARD London:

    Was passiert eigentlich, wenn das Licht ausgeht? Ich sehe schwarz. Ich stehe steif. Was jetzt? Ich hebe meinen linken Arm, berühre den Türrahmen. Spüre den brüchigen Lack unter meinen Fingern. Kratze mit den Nägeln ein bisschen daran herum. Krümel fallen zu Boden. Ich kann das hören. Dann zerreibe ich sie mit dem linken Fuß. Es knackselt.
    Ich drehe mich langsam zur Seite. Hebe das linke Bein mit dem lackbekrümelten Fuß. Setze ihn ein Stück vor mir wieder ab. Dann den rechten. Fuß vor Fuß vor Fuß. Ich fahre mit den Fingern an der Wand entlang, mich stützend. Nach weiteren Schritten fährt die Hand die Wand hinab, landet sanft auf meinem Oberschenkel. Geht doch.
    Ich erreiche das Bad. Taste mich zur Wanne hin, taste weiter zum Wasserhahn. Heble den Griff hoch. So laut dieser Strahl. So kalt. Warm ist rechts, fällt mir ein.

    Mandarine auf der Waschmaschine

    Die Haut ist von Hals bis Fuß in Wasser gehüllt, das Atmen fällt mir schwer. Ich spüre jeden Schlag meines Herzens. Ich reibe mit meinen Füßen den Wannenrand und mir gefällt das Geräusch. Ich suche minutenlang ein Wort dafür. Finde keins. Hallo, ihr Zehen, wie geht's euch eigentlich? Ich hebe sie bis kurz unter die Wasseroberfläche, bewege sie auf und ab. So schön klingt das. Dann knurrt mein Magen. Mir fällt eine Mandarine ein, die noch auf der Waschmaschine liegen muss.
    Und da liegt sie. Mit dem Daumen ein Loch in die Schale gedrückt, ein Spritzer trifft meine Nase. Riecht Bittersüß. Ich halbiere die Kugel, berge eine Hälfte in der rechten Hand und trenne von der anderen eine Spalte ab. Wieder ein Geräusch, das Worte nicht treffen. Vorsichtig durchbeiße ich das Häutchen und sauge den Saft heraus. Süß ohne bitter.
    Von irgendwo her kommen Töne. Klaviertöne, langsam, einzeln angeschlagen, unaufdringlich, dann schneller. Eine Welle baut sich auf. Ein Streicher. Cello? Keine Ahnung. Kopf geht aus. Schlagzeug. Sie wächst, die Welle, schwillt. Die Töne überströmen mich, der Bass bewegt mein Becken, meine Beine und Arme, meinen Kopf. Ich tanze.
    Ein Blick aus dem Fenster. Im Dunkel die Fensterkreuze der anderen, mit Lämpchen in gelb, rot, grün. Kahle Zweige. Ich will raus, andere finden, mit denen ich meine Dunkelliebe teilen kann.
    Also, wie wär's? Augen zu. Und los.
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