Kult um die Jungfräulichkeit
Der türkische Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk, selbst aus der türkischen Oberschicht stammend, präsentiert eine Liebesgeschichte im Istanbul der späten 1970er Jahre. "Das Museum der Unschuld" besteht aus einer Sammlung von Zigarettenkippen bis Haarspangen der verstorbenen Geliebten. Kemal, der Held des Romans, will damit in erotischer Besessenheit seiner tragischen Liebe gedenken. Das heimliche Thema des Romans ist der Kult um die Jungfräulichkeit und die sexuelle Doppelmoral.
Der neue Roman von Orhan Pamuk ist schwierig zu etikettieren. Er liest sich wie ein Liebesmelodram, also eine absichtlich banal-tragische Liebesgeschichte nach Art einer Seifenoper, gelegentlich wirkt er aber wie die Karikatur einer Liebesgeschichte, denn über weite Strecken des Romans wird die Liebespartnerin nur herbeiphantasiert und mittels Fetischen zum Leben erweckt.
Insofern erzählt der Roman die Geschichte der einseitigen erotischen Besessenheit eines Mannes, der seiner Liebe wie einem einsamen Laster frönt. Ist der Roman also das Psychogramm eines Fetischisten, eines zwanghaften Sammlers mit abartigen Neigungen? Oder eine literarische Imitation türkischer Fotoromane und Liebeskitschfilme? Oder die Parodie auf solche Melodramen? All dies sind mögliche Lesarten des Romans.
Die Geschichte spielt in Istanbul und beginnt Mitte der siebziger Jahre. Kemal, ein junger Mann aus reicher Familie, ist mit einem standesgemäßen Mädchen verlobt, beginnt aber gleichzeitig eine Affäre mit Füsun, einer entfernten armen Verwandten. Er meint, diese Affäre neben seiner Verlobung weiterführen zu können. Doch nach dem Verlobungsfest verschwindet Füsun spurlos. Als Kemal sie nach Monaten wieder aufspürt, ist sie von ihrer Familie der Schande wegen an irgendeinen Nachbarjungen verheiratet worden. Kemal aber hat sich inzwischen in Füsun wirklich verliebt und will sie wiedergewinnen. Das entpuppt sich als ein mühsames Projekt. Es folgt ein acht Jahre dauernder Selbstbestrafungs-, Sühne- und Minnedienst, um die beleidigte Füsun von seiner Liebe zu überzeugen. Kemal wird abendlicher Dauergast bei ihrer Familie, unterstützt sie finanziell und gründet sogar eine Filmfirma, um Füsun ihren Wunsch zu erfüllen, Filmschauspielerin zu werden.
In diesen acht Jahren sammelt er Mementos, Erinnerungsstücke und Objekte, die er seiner Angebeteten heimlich entwendet hat – ihre Haarspangen, Kämme, Taschentücher, Lippenstifte, Zigarettenkippen. Diese Fetische hortet er in seiner Wohnung, daraus wird er später ein Museum machen, das titelgebende Museum der Unschuld. Wie sich am Ende herausstellt, ist dieser Roman nichts anderes als der Katalog zum Museum, denn er verzeichnet gewissenhaft die Umstände des Erwerbs aller Exponate und den präzisen Verlauf dieser Liebesgeschichte.
Vorschlag einer anderen Lesart: Demnach untersucht dieser Roman das widersprüchliche Frauenbild in der Türkei, schwankend zwischen sexueller Freiheit nach westlichem Vorbild und traditionellen türkischen Tugendgeboten, dem Kult der Unberührtheit der Frau. Der Roman thematisiert die sexuelle Doppelmoral türkischer Männer, vor allem im europäisierten Milieu der wohlhabenden Oberschicht Istanbuls. Diese Doppelmoral erlaubt Männern (scheinbar) alle sexuelle Freiheit, bringt sie aber in Konflikt mit dem traditionellen Moralkodex, der stillschweigend immer noch gilt – dem Kult um die Jungfräulichkeit der Frau vor der Ehe. Ein Mann, der ein Mädchen entjungfert, muss es heiraten. Kemal hat zwei Mädchen entjungfert, seine Verlobte und Füsun, das ist sein Dilemma.
Orhan Pamuk kann sich nicht recht entscheiden, was er eigentlich erzählen will: eine Liebesgeschichte, die Rachegeschichte einer entehrten Frau, eine Masturbationsfantasie, die Entstehungsgeschichte eines Museums oder das literarische Gegenstück eines türkischen Fotoromans. Insofern ist «Das Museum der Unschuld» interessant, aber letztlich als Roman verunglückt.
Rezensiert von Sigrid Löffler
Orhan Pamuk: Das Museum der Unschuld
Roman, Aus dem Türkischen von Gerhard Meier,
Hanser Verlag, München 2008,
575 Seiten, 24,90 Euro
Insofern erzählt der Roman die Geschichte der einseitigen erotischen Besessenheit eines Mannes, der seiner Liebe wie einem einsamen Laster frönt. Ist der Roman also das Psychogramm eines Fetischisten, eines zwanghaften Sammlers mit abartigen Neigungen? Oder eine literarische Imitation türkischer Fotoromane und Liebeskitschfilme? Oder die Parodie auf solche Melodramen? All dies sind mögliche Lesarten des Romans.
Die Geschichte spielt in Istanbul und beginnt Mitte der siebziger Jahre. Kemal, ein junger Mann aus reicher Familie, ist mit einem standesgemäßen Mädchen verlobt, beginnt aber gleichzeitig eine Affäre mit Füsun, einer entfernten armen Verwandten. Er meint, diese Affäre neben seiner Verlobung weiterführen zu können. Doch nach dem Verlobungsfest verschwindet Füsun spurlos. Als Kemal sie nach Monaten wieder aufspürt, ist sie von ihrer Familie der Schande wegen an irgendeinen Nachbarjungen verheiratet worden. Kemal aber hat sich inzwischen in Füsun wirklich verliebt und will sie wiedergewinnen. Das entpuppt sich als ein mühsames Projekt. Es folgt ein acht Jahre dauernder Selbstbestrafungs-, Sühne- und Minnedienst, um die beleidigte Füsun von seiner Liebe zu überzeugen. Kemal wird abendlicher Dauergast bei ihrer Familie, unterstützt sie finanziell und gründet sogar eine Filmfirma, um Füsun ihren Wunsch zu erfüllen, Filmschauspielerin zu werden.
In diesen acht Jahren sammelt er Mementos, Erinnerungsstücke und Objekte, die er seiner Angebeteten heimlich entwendet hat – ihre Haarspangen, Kämme, Taschentücher, Lippenstifte, Zigarettenkippen. Diese Fetische hortet er in seiner Wohnung, daraus wird er später ein Museum machen, das titelgebende Museum der Unschuld. Wie sich am Ende herausstellt, ist dieser Roman nichts anderes als der Katalog zum Museum, denn er verzeichnet gewissenhaft die Umstände des Erwerbs aller Exponate und den präzisen Verlauf dieser Liebesgeschichte.
Vorschlag einer anderen Lesart: Demnach untersucht dieser Roman das widersprüchliche Frauenbild in der Türkei, schwankend zwischen sexueller Freiheit nach westlichem Vorbild und traditionellen türkischen Tugendgeboten, dem Kult der Unberührtheit der Frau. Der Roman thematisiert die sexuelle Doppelmoral türkischer Männer, vor allem im europäisierten Milieu der wohlhabenden Oberschicht Istanbuls. Diese Doppelmoral erlaubt Männern (scheinbar) alle sexuelle Freiheit, bringt sie aber in Konflikt mit dem traditionellen Moralkodex, der stillschweigend immer noch gilt – dem Kult um die Jungfräulichkeit der Frau vor der Ehe. Ein Mann, der ein Mädchen entjungfert, muss es heiraten. Kemal hat zwei Mädchen entjungfert, seine Verlobte und Füsun, das ist sein Dilemma.
Orhan Pamuk kann sich nicht recht entscheiden, was er eigentlich erzählen will: eine Liebesgeschichte, die Rachegeschichte einer entehrten Frau, eine Masturbationsfantasie, die Entstehungsgeschichte eines Museums oder das literarische Gegenstück eines türkischen Fotoromans. Insofern ist «Das Museum der Unschuld» interessant, aber letztlich als Roman verunglückt.
Rezensiert von Sigrid Löffler
Orhan Pamuk: Das Museum der Unschuld
Roman, Aus dem Türkischen von Gerhard Meier,
Hanser Verlag, München 2008,
575 Seiten, 24,90 Euro