Kultur des Wandels

Von Kersten Knipp |
Wann eigentlich endet die Bonner Republik endgültig? Politisch ist sie schon seit Jahren Geschichte. Wirtschaftlich hingegen geht sie erst jetzt, nach der Finanzkrise, ihrem Ende entgegen.
Alles deutet darauf hin, dass nach den fetten nun die mageren Jahre beginnen. Für uns Deutsche kann das nur eines heißen: Wir werden uns umstellen, unsere Erwartungen und Ansprüche neu justieren müssen. Denn wie geht man damit um, wenn Straßen nicht mehr renoviert, Schwimmbäder geschlossen werden, Bibliotheken ihre Öffnungszeiten und ihr Angebot reduzieren, junge Menschen millionenfachen Stundenausfall an den Schulen hinnehmen müssen?

Nicht alles, aber sehr viel wird davon abhängen, wie wir diesen Wandel kulturell bewältigen. Das klingt arg idealistisch und ist es auch – aber nur zu Teilen. Keine Kultur dieser Welt, so scheint es, füllt ein stillgelegtes Schwimmbad wieder mit Wasser. Wirklich nicht? Wenn wir Prioritäten setzen, vielleicht schon.

Und Prioritäten zu setzen, ist eine hochkulturelle Handlung. Wenn Kultur sich damit auseinandersetzt, wozu der Mensch auf der Welt ist, was er hier will und was er hier soll, dann kann Kultur zu einer höchst politischen Kraft werden. Soll der Mensch schwimmen können?
Es spricht sehr viel dafür. Also braucht man Schwimmbäder, vielleicht nicht mehr ganz so viele, aber doch genügend, um flächendeckenden Schwimmunterricht zu gewährleisten. Die Frage nach der Gegenfinanzierung wirft die nach einer zukunftsgerichteten Politik auf: War etwa die milliardenteure Abwrackprämie wirklich etwas anderes als bloß ein Hinauszögern des Unvermeidlichen?

Überlegungen dieser Art werden wir in Zukunft immer häufiger anstellen müssen. Und so wird der Sparzwang zu einer hochgradig kulturellen Angelegenheit. Er wird uns eine höhere Selbsterkenntnis bescheren, denn er wird uns mit einigen grundlegenden Fragen konfrontieren.

Was brauchen wir wirklich, und was glauben wir nur zu brauchen? Sind unsere Ansprüche und Normen wirklich so selbstverständlich und zeitlos gültig, wie wir es annehmen? Oder lässt sich die Welt auch ganz anders sehen? Muss man wirklich alles dem Staat anvertrauen? Oder lässt sich einiges nicht auch durch privates Engagement leisten? Und birgt dieses Engagement womöglich nicht auch ein gewaltiges Sinnpotenzial? Die digitale Kontaktsuche könnte ergänzt werden um die im richtigen Leben.

So lässt sich vieles neu denken, zumindest aber in Frage stellen: Der staatliche Ausbau der Kindertagesbetreuung, so sinnvoll und unverzichtbar er in vielen Fällen ist, bedeutet nicht, dass Kindern nicht auch anders betreut werden könnten. Auch die Jugendarbeit muss nicht gezwungenermaßen vom Staat organisiert werden – das meiste läuft ja längst schon über Sport- und Freizeitvereine.

Es geht nicht um romantische Verzichtslehren, um Zurück-zur-Natur-Aufrufe. Wohl aber geht es darum, Prioritäten zu setzen in einer Gesellschaft, die sich nicht mehr alles leisten kann, weil ihr das Geld ausgeht. Es geht um die Auseinandersetzung mit kommenden Realitäten. Es geht um die Kunst der Umwertung. Darum, Werte und Wünsche, Standards und scheinbare Selbstverständlichkeiten neu zu verhandeln.

Und diese Diskussionen werden uns einen Eindruck von der Relativität menschlicher Lebensformen verschaffen, der befreiend wirken kann. Nicht alles ist Sachzwang, was so scheint. Nicht jeder Verzicht ist ein auch Verlust. Der Verzicht bietet die Möglichkeit, andere Dinge zu erhalten, sie vielleicht überhaupt erst wahrzunehmen. Nichts hindert uns darum, die Krise auch als Chance zu begreifen. Wir brauchen einen produktiven Umgang mit ihr, einen Umgang, der mit Kreativität und Relativismus zu tun hat.

In den kommenden Jahren wird sich eine Kultur des gesunkenen Wohlstands ausbreiten. Das ist nicht schlimm, solange es sich wirklich um eine Kultur handelt. Das heißt viel mehr, als sich nur dem Unabänderlichen zu fügen. Es heißt, Chancen zu sehen, die Welt und sich selbst neu zu erfinden.


Kersten Knipp, geboren 1966, studierte portugiesische, französische und englische Philologie in Köln, Toulouse und Fortaleza, Brasilien. Nach der Promotion begann er für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften und ARD-Anstalten zu arbeiten. Nachdem er lange Zeit über die iberische Halbinsel und Lateinamerika berichtete, durchreist er seit mehreren Jahren die arabische Welt, über die er regelmäßig schreibt.
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Kersten Knipp© privat