Thorsten Jantschek, Jahrgang 1966, studierte Philosophie. Zunächst war er beim NDR, anschließend bei Radio Bremen verantwortlich für "Religion und Gesellschaft", parallel war er dazu mehrere Jahre als Lehrbeauftragter am Institut für Philosophie der Universität Bremen tätig. Seit 2013 arbeitet er für Deutschlandfunk Kultur – erst als Redakteur in der "Aktuellen Kultur", danach im Bereich Sachbuch und Philosophie. Seit 2016 ist er Abteilungsleiter "Aktuelle Kultur und Politik".
Schlicht nicht systemrelevant
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Mindestens vier Wochen finden keine kulturellen Veranstaltungen statt. Das wird schwer, ist aber notwendig, findet Journalist Thorsten Jantschek: Kontakte müssen reduziert werden, auch im Freizeitbereich – und dazu gehören Kino, Theater und Konzerte.
"Kultur ist systemrelevant!", je länger ich diesen Satz höre, inbrünstig vorgetragen mit dem Bewusstsein der eigenen Bedeutung der Kulturschaffenden, desto unwahrer scheint er zu werden. Klar, die kulturelle Infrastruktur dieses Landes ist einzigartig. Und klar, als Bewohner der Kulturwelt liegen mir Theater und Klubs, Museen und Opernhäuser, Konzertsäle und Literaturhäuser mehr als am Herzen. Und klar, bei kulturellen Veranstaltungen gibt es wirkmächtige Hygienekonzepte und offenbar kaum Infektionsausbrüche.
Aber darum geht es doch gar nicht, sondern um die Kontakte, die drum herum stattfinden. Nicht in den Galerien haben sich Besucher des diesjährigen Gallery Weekends im September in Berlin angesteckt, sondern danach mit dem Prosecco in der Hand. Ich selbst habe erlebt, wie nach einer Vernissage alle dicht gedrängt vor der Galerie stehen, als ob das Virus die Kulturleute nicht befällt. Kontakte müssen reduziert werden, das betrifft eben den Freizeitbereich, ob in den Haushalten, beim Sport oder kulturellen Veranstaltungen.
Elitäres Argument und Gejammer
Dann geht wieder das Gejammer los: Wie kann man denn bloß ein Opernhaus mit einer Fitnessbude oder einer Spielhölle vergleichen. Das ist, mit Verlaub, aber ein ziemlich elitäres Argument. Es unterstellt, dass Kulturveranstaltungen – wegen ihrer Bedeutung – nicht zum Freizeitbereich zählen würden. Das heißt doch, dass in der Freizeit eigentlich nichts Wichtiges geschieht, jedenfalls nichts kulturell Bedeutendes. Was natürlich Unsinn ist. Schließlich liest man Kindern auch in der Freizeit vor, oder man liest selbst, schaut iranische Kurzfilme …
Kulturelle Veranstaltungen sind schlicht nicht systemrelevant. Wenn sie nicht stattfinden, kann das öffentliche Leben weiter funktionieren, auch wenn es um diese Facette ärmer ist. Wenn der Pflegebereich zusammenbricht oder die Müllabfuhr nicht mehr funktioniert, sieht es anders aus. Wie viele Menschen interessiert es denn, wenn heute Orchester "sang- und klanglos" 20 Minuten schweigen? Was würde passieren, wenn zur selben Zeit alle Beschäftigten an den Kassen der Supermärkte 20 Minuten die Hände in den Schoß legen würden?
Gut investieren für die Zeit nach der Pandemie
Statt die Debatte um den Lockdown mit einer wohlfeilen Wolke aus dem Handbuch "Wie wichtig ist die Kultur für die Demokratie!" zu umgeben, gibt es wirklich wichtige Aufgaben: etwa öffentlich geförderte oder private Kulturinstitutionen – also die Infrastruktur – für die Zeit nach der Krise zu erhalten. Und vor allem: 1,5 Millionen – zum Teil prekär – Beschäftigten der Kultur- und Veranstaltungswirtschaft schnell und unbürokratisch zu helfen.
Diese Aufgabe ist riesig und sie kostet viel Geld. Es wird für die Zeit nach dem Lockdown, nach der Pandemie gut investiert sein. Dazu muss man aber auch die Debatte vom ideologischen Kopf auf die ökonomischen Füße stellen. Frei nach dem Motto: Erst kommt das Fressen, dann die Moral.