Kultur mit biologischen Begriffen erklärt

Entwicklungsprozesse in der Biologie, der Evolution oder Kultur ähneln einander, behauptet der renommierte Molekularbiologe Enrico Coen in seinem Buch "Die Formel des Lebens - Von der Zelle zur Zivilisation". Dabei scheut er auch keine gewagten Vergleiche.
Entwicklung wohin man schaut: Aus Bakterien wird die Vielfalt der Arten. Aus einem Embryo ein komplexes Tier. Ein Kind lernt sich ins Erwachsenenalter. Kulturen der Faustkeile evolvieren zur globalisierten Gesellschaft.

In seinem Buch "Die Formel des Lebens" möchte der Biologe Enrico Coen zeigen, dass evolutionäre, biologische und kulturelle Entwicklungsprozesse frappierende Ähnlichkeiten aufweisen. Sieben Bedingungen seien bei der Umwandlung des Einfachen in das Komplexe immer wieder zu finden, wie der Autor in zwölf Kapiteln zu belegen versucht:

Variabilität - vielfältig sind Mutationen, neuronale Netzwerke und kulturelle Ideen. Persistenz - Genveränderungen, Neuronen und Ideen haben ihre Mindesthaltbarkeit. Verstärkung - die Wirkung des Bewährten wird durch positive Rückkopplungsschleifen gesteigert. Wettbewerb - jede Erfindung muss sich in einer harten Umwelt durchsetzen. Kooperation - Gene, Lernerfahrungen, Künstler koppeln sich zu einflussreicheren Gebilden zusammen. Kombinatorischer Reichtum - Ideen und Erfindungen lassen sich beinahe unendlich vielfältig zusammensetzen. Rekurrenz - Bewährtes wird kopiert und vermehrt.

Dass Entwicklungsprozesse einander strukturell ähnlich sind, ist laut Coen nicht verwunderlich, denn die Ebenen des Lebens umhüllen einander. Evolution umrahmt und ermöglicht Biologie, Biologie ermöglicht ein lernendes Gehirn, das wiederum umrahmt und bedingt kulturelle Leistungen. Auch wenn jede Stufe Besonderheiten mit sich bringt, existieren sie doch nicht unabhängig voneinander, daher die gemeinsame Grundstruktur der Prozesse.

Enrico Coens Buch ist keine ganz leichte Lektüre. Der Autor möchte differenziert und gehaltvoll argumentieren und mutet seinen Leserinnen und Lesern einiges an biologischem Fachwissen zu. Gleichzeitig erweist er sich als begabter Lehrer, der sich auf schöne Metaphern, kurzweilig eingestreute Episoden und hilfreiche Zusammenfassungen versteht.

Dennoch stellt sich am Ende des Buches die Frage, wie viel philosophische Substanz in der Formel des Lebens steckt. Wie andere Biologen, die zum trendigen großen Sprung zu einer einheitlichen "Theorie von allem" für Biologie und Kultur ansetzen, tappt auch Coen in die Falle des philosophischen Kategorienfehlers: Die biologischen Voraussetzungen kulturellen Schaffens sind nicht identisch mit den Inhalten des Geschaffenen. Besonders am Ende seines Buches schreibt sich der Autor so in Leidenschaft, dass er zu der Meinung tendiert, durch seine Formel Kultur in biologischen Begrifflichkeiten erschöpfend fassen zu können - eine Täuschung.

Zudem unterliegt seinem Denken ein Zirkelschluss: Seine "Formel des Lebens" ist möglicherweise nur ein anderes Wort für "Entwicklung". Dann hätte er Entwicklung mit Entwicklung erklärt. Also durch sich selbst. Ohne einen Zugewinn an Erkenntnis. Lesenswert ist das Buch nicht des angeblich bahnbrechenden Charakters seiner Formel wegen, sondern weil der Autor das Wesen von Entwicklungsphänomenen ungewöhnlich und präzise beschreibt.


Besprochen von Susanne Billig

Enrico Coen: Die Formel des Lebens - Von der Zelle zur Zivilisation
aus dem Englischen von Elsbeth Ranke
Hanser Verlag, gebunden
383 Seiten, 24,90 Euro

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