Kultur statt Kohle

Von Bettina Kaps |
Touristen verlieren sich bisher kaum nach Lens, der verregneten Zentrale des ehemaligen Kohlereviers im Norden Frankreichs. Das soll sich nun ändern. Denn ausgerechnet in der farblosen Bergarbeiterstadt gibt es nun den ersten Ableger des berühmten Pariser Louvre zu sehen, das Museum "Louvre Lens".
Lens, 200 Kilometer nördlich von Paris. Der Schnellgeschwindigkeitszug TGV legt die Strecke in 66 Minuten zurück. Wer dort angekommen den Bahnhof verlässt, stößt auf die Ruine eines Kinos aus den 30er-Jahren. "Apollo" steht auf der schmutzig weißen Art-Deco-Fassade, sie ist denkmalgeschützt. Aber der Eingang ist zugemauert und durch die Fensteröffnungen sieht man den Himmel.

Das "Apollo" war das letzte Kino der Stadt. Seit zwölf Jahren ist es geschlossen, sagt die Taxifahrerin Angelique Schulz. In der Innenstadt sei auch nichts los.

"Viele Geschäfte haben dicht gemacht. Es gibt keine schicke Boutique mehr, nur noch die Läden der großen Ketten. Das einzige, was jetzt bei uns eingeführt wurde - rechtzeitig bevor die Besucher des neuen Museums kommen - sind Parkuhren. Mit dieser Neuerung sind wir überhaupt nicht einverstanden."

Die junge Frau zeigt auf die Bürgersteige: Sie sind neu gepflastert. Neben den Parknischen steht jetzt "gebührenpflichtig" auf dem Asphalt. Eine Last mehr für uns, empört sie sich. Die Bewohner von Lens müssten doch jeden Centime umdrehen.

"Wir sind hier schließlich im ehemaligen Kohlerevier. Ganze Stadtviertel sind von Arbeitslosigkeit und Armut betroffen. Die meisten Menschen leben von der Sozialhilfe."

Aber es gibt einen Hoffnungsschimmer. Erste Zeichen sind schon sichtbar. Zum Beispiel an der brüchigen Fassade des Apollo-Kinos: Dort hängt jetzt eine Bautafel und kündigt ein Drei-Sterne-Hotel an. Denn Lens erwartet Touristenströme.

Morgen wird am Rand der Stadt ein neues Museum eingeweiht. Der "Louvre-Lens" - für die Verantwortlichen klingt es wie ein Zauberwort. Sie rechnen mit 700.000 Besuchern allein im ersten Jahr. Angelique Schulz glaubt nicht daran.

"Ich kenne Leute, die im Stadtrat sitzen. Sie beteuern, dass es zu großen Veränderungen kommen wird. Ich kann mir das nicht vorstellen. Okay, wir Taxifahrer bekommen bestimmt mehr Arbeit. Aber die Besucher werden kaum in Lens bleiben.

Nach dem Museumsbesuch wollen die Kunden vielleicht, dass wir sie in die Nachbarstädte bringen, nach Arras und Lille, wo es viel schöner ist. Ich sehe nicht, was sich hier bei uns ändern könnte."

Das Rathaus von Lens ist ein nüchternes Hochhaus mit glatter Fensterfront aus den 60er-Jahren. Früher stand hier ein neoklassizistischer Palast aus dem Jahr 1913.

Damals war Lens die wichtigste Stadt des Kohlereviers und drückte seine Wirtschaftsmacht auch architektonisch aus. Im Ersten Weltkrieg wurde das Gebäude zerstört, in den 20er-Jahren neu errichtet, im Zweiten Weltkrieg endgültig zerbombt.

Aber auch nach dem Krieg fanden über 220.000 Menschen im Kohlerevier Arbeit. Die Bergbauindustrie boomte bis in die 60er-Jahre. Die Steinkohle diente als Motor für den Wiederaufbau in ganz Frankreich, bis auf die goldenen Jahre der industrielle Niedergang folgte.

Eine Zeche nach der anderen wurde geschlossen, sagt Bürgermeister Guy Delcourt. Der Sozialist kennt die Menschen seiner Stadt, ihre Geschichte. Er kann ihre Skepsis verstehen.

"Die harte Arbeit unter Tage hat unsere Bevölkerung geprägt. Sie glaubt die Dinge erst, wenn sie wahr und wirklich sind."

Er selbst habe früher schwere Zeiten durchgemacht, in denen er arbeitslos war. Er wisse, wie demoralisierend das sei.

Der 65-Jährige ist groß und kräftig, mit dichtem weißen Haar und einem kantigen, von Falten zerfurchten Gesicht. Ein Beschützertyp.

"Lens hat wie viele Städte des Kohlereviers in den 80er-Jahren sehr gelitten. In den 90er-Jahren machten hier auch alle Fabriken der Stahl- und Chemiebranchen dicht. So kam es, dass die 5000 Arbeitsplätze, die wir neu geschaffen hatten, wieder weggefegt wurden.

Jetzt gibt es - abgesehen vom Autohersteller Toyota- in unserer Gegend keine einzige große Fabrik mehr. Wenn man die Minijobs beiseite lässt, von denen niemand leben kann, beträgt die Arbeitslosigkeit bei uns nicht 13, sondern 18 Prozent."

Der Bürgermeister musste mit ansehen, wie seine Stadt und die Region Nord Pas de Calais noch tiefer in die Depression abglitten. Dann wurde bekannt, dass der Pariser Kulturminister und der Direktor des Louvre-Museums eine Dependance in der Provinz planten. Das Nord Pas de Calais witterte eine Chance, der Regionalpräsident engagierte sich mit aller Kraft für dieses außergewöhnliche Projekt, Bürgermeister Guy Delcourt zog mit am Strick.

Er bot ein Baugelände an, ein riesiges Areal, 20 Hektar groß. Es liegt genau über einer ehemaligen Zeche. Die Bevölkerung stellte sich hinter das Projekt: 8000 Menschen der 35.000 Einwohnerstadt unterzeichneten eine Erklärung, wonach sie das Museum in ihrer Stadt haben wollten. Auch das trug dazu bei, dass die französische Regierung der Stadt Lens im Jahr 2004 den Zuschlag gab, sagt Delcourt.

"Der Louvre ist jetzt unser Lockangebot. Allein die Baustelle hat uns schon in den vergangenen fünf Jahren erlaubt, Arbeitsplätze zu retten. Jetzt stellt das Museum Personal ein, 150 Stellen sind geplant. In Kürze werden wir auch dank des Tourismus Arbeitsplätze schaffen können.

Gerade eben habe ich mit einer großen Hotelkette einen Rahmenvertrag unterzeichnet: Das Unternehmen wird ein Vier-Sterne-Hotel mit 80 Zimmern bauen, hier in Lens, zu Füßen des Louvre."

Vier Sterne - ein ganz ungewöhnlicher Luxus für diese Stadt. Auch einen Kinokomplex soll es bald wieder geben.

Wer das Rathaus verlässt, sieht zwei riesige Abraumhalden am Horizont, es sind die höchsten Europas. Heute sind sie nicht mehr schwarz, sondern schimmern grün - die Natur erobert die künstlichen Berge. In dieser Richtung liegt auch das Museum.

Die Straße führt vorbei an einer Bergarbeitersiedlung aus rotem Backstein. Mehr als ein Dutzend einstöckige Einfamilienhäuser sind hier Wand an Wand gebaut, so als ob sie sich gegenseitig Schutz und Halt gewähren sollten. Früher standen diese Häuser genau gegenüber der Zeche 9. Heute blicken die Bewohner auf den Louvre-Lens.

Ein Bau mit flacher und streng geometrischer Architektur. Fünf Rechtecke, leicht versetzt wie Bauklötze aneinander gereiht. Zwei Gebäudeteile aus Glas, sodass die Bäume auf der anderen Seite zu sehen sind. Der übrige Bau ist mit Aluminium verkleidet. Himmel und Wolken spiegeln sich in der Metallfassade, die mit der Landschaft verschmilzt.

Davor schütten Traktoren frische Erde auf: Rund ums Museum wird ein riesiger Landschaftspark angelegt.

Gegenüber vom Louvre-Lens liegt das Restaurant "Chez Cathy", ein Familienbetrieb. Es ist Mittag, das Lokal ist voll. Arbeiter mit fluoreszierenden Schutzwesten essen Steak und Fritten. Am Nebentisch sitzen zwei Japaner vom vielfach ausgezeichneten Architekturbüro Sanaa, das den Louvre baut. Michel, der Ehemann der Chefin, erklärt ihnen die Tageskarte - auf Japanisch. Er behilft sich mit einem Taschenübersetzer.

"Heute haben wir Kabeljaufilet mit Risotto und Lauch. Auf Japanisch heißt Kabeljau Tawa und Reis heißt Gorhan. Ein Rindsteak ist Uschi und Fritten heißen Tschipu. Aber wenn wir Gemüseplatte kochen, wird es kompliziert."

Cathy Debas bringt ihre Spezialität aus der Küche: Fritten, handgeschält und handgeschnitten. Die Chefin hat das Lokal vor 35 Jahren gekauft, bald wird es ihr Sohn übernehmen. Die Zeche war damals schon geschlossen, aber der Förderturm stand noch, sagt sie.

"Als die Bergwerkgesellschaft fort war, wurde hier eine Industriezone eingerichtet. Dann wurde das Museum beschlossen. Alle Firmen zogen weg und drei Jahre lang hatten wir gar keine Arbeit mehr. Aber inzwischen läuft es besser, das entschädigt uns. Wir erhoffen uns jetzt sehr viel vom Louvre."

Im Frühjahr will sie eine erste Arbeitsstelle schaffen, das mache sie sehr stolz, sagt Cathy. Und falls die Einkünfte tatsächlich steigen, will Cathy das Lokal renovieren lassen. Aber eins ist ihr besonders wichtig:

"Unsere Preise sollen anständig bleiben. Schließlich werden bei uns auch Familien essen. Ich vergesse nie, dass mein Vater Bergarbeiter war und ich als Älteste in einer Arbeiterfamilie mit sieben Kindern aufgewachsen bin."
Wenige Schritte vom Museum entfernt liegt das "Maison du Projet", dort können sich alle Interessenten mit dem Museums-Projekt vertraut machen. Vor dem Treppenaufgang treffen sich sechs junge Erwachsene mit ihrer Ausbilderin.

Alle sechs, sagt Isabelle Lavaudin, stammten aus sozial benachteiligten Familien der Region und alle seien arbeitslos. Sie wolle den jungen Menschen zeigen, dass es im Leben auch Schönes gebe.

Lavaudin arbeitet in einer Einrichtung, die jungen Arbeitslosen hilft, konkrete berufliche Projekte zu entwickeln. Steven will Gärtner werden, Melissa Reinigungskraft, Marie hofft auf eine Stelle als Verkäuferin für Wurstwaren. Das sind keine großen Ambitionen.

Trotzdem kann die Ausbilderin den jungen Leuten kaum Hoffnung auf einen festen Job machen. Marie weiß, dass ihre Zukunft nicht rosig ist. Für die junge Frau hängt das mit ihrer Herkunft zusammen.

"Wenn die Leute vom Nord Pas de Calais sprechen, sagen sie oft, wir seien Trinker. Wirklich, diesen Ruf haben wir, dabei stimmt das gar nicht. Und selbst wenn wir arbeitslos sind, so arbeiten wir trotzdem. Wir machen alle Jobs, die wir finden können, und wir suchen nach festen Stellen.

Aber man gibt uns keine, was können wir dagegen schon tun? Aber sonst ist es gut hier im Nord Pas de Calais, das ist unser Zuhause."

Die kleine Gruppe geht in den Ausstellungsraum mit Fotos und Modellen, wo ihnen eine Kultur-Vermittlerin das Projekt erklärt.

"Es sei ganz und gar nicht alltäglich, sagt Beatrice Duhesme, dass das größte Museum der Welt seine Zweigstelle ausgerechnet hier in Lens errichte. Der Louvre habe das mit seinen acht Millionen Besuchern im Jahr doch gar nicht nötig. Er verfolge eine Absicht und die heiße: kulturelle Dezentralisierung.

Paris ist die Hauptstadt, dort ist alles konzentriert: Opern, Museen ... , man hat das Gefühl, dass sich alles Wichtige in Paris abspielt. Jetzt will man bestimmte kulturelle Einrichtungen aus Paris herausbringen, damit auch andere Teile der Bevölkerung sie besuchen können."

Marie, Melissa und die Anderen hören aufmerksam zu. Niemand von ihnen ist schon im Louvre gewesen. Nein, sie war auch noch nie in Paris, sagt Marie. Die Mitschüler auch nicht.

Für die jungen Leute aus dem Nord Pas de Calais liegt die Hauptstadt mit ihren Sehenswürdigkeiten nicht eine Zugstunde, sondern Welten entfernt. Die Kultur-Vermittlerin will ihre Zuhörer neugierig machen und ihnen die Scheu vor dem Museum nehmen.

"Lens wurde auch deshalb ausgewählt, weil es im Kohlrevier liegt. Der Staat will den Minenarbeitern die Ehre erweisen. Immerhin haben sie stark gelitten und durch ihre harte Arbeit zum Wiederaufbau und zum Reichtum des Landes beigetragen. Für die französische Geschichte ist die Arbeit der Bergleute wichtig."

Während die Führung ihren Lauf nimmt, erledigen die Arbeiter im Museum Louvre-Lens die letzten Handgriffe. Xavier Dectot, der Direktor des Museums, geht prüfend von Saal zu Saal. Er muss dafür sorgen, dass der Louvre-Ableger Brücken schlägt und sich in Lens und seiner Umgebung integriert. Deshalb ist der Eintritt ein Jahr lang kostenlos. Aber das genügt nicht, sagt Dectot.
"Wir müssen gezielt auf unser Publikum zugehen, nur so können wir es erobern. Dazu haben wir Mediatoren ausgebildet. Zwölf Vermittler gehen schon seit einiger Zeit auf die Suche nach diesem Publikum: auf dem Wochenmarkt, vor den Grundschulen ... Sie machen sogar Hausbesuche, klingeln bei den Einwohnern, um einen nach dem anderen davon zu überzeugen, dass sie wenigstens einmal schauen sollten, wie es im Museum aussieht."

Dectot ist jung, groß und mollig. Mit seinem rotblond gelockten Zaushaar und der Fliege über dem hellen Leinenanzug sieht er erstaunlich salopp aus. Natürlich, sagt der Direktor, hat der Louvre-Lens auch die geübten Kunsttouristen aus dem In- und Ausland im Visier.

"Lens ist ja nicht nur eine der ärmsten Regionen in Frankreich. Die Stadt befindet sich zugleich im Herzen einer Euro-Region, die zu den reichsten Gegenden der Welt gehört."

Lille, Brüssel, Paris liegen im Umkreis. Selbst London ist dank des Eurotunnels nur gut drei Stunden entfernt. Um Bildungsreisende ins Kohlerevier zu locken, setzt der Museumsleiter auf das neuartige Ausstellungskonzept, wie es in der Galerie du Temps verwirklicht ist.

Die "Galerie der Zeit" ist das Herzstück des Museums, ein riesiger, 120 Meter langer Ausstellungssaal. Die Innenwände sind hier auch aus matt spiegelndem Aluminium, was ein Gefühl der Weite vermittelt.

"In der Galerie der Zeit präsentieren wir 205 bedeutende Werke aus dem Louvre, jeweils für eine Dauer von fünf Jahren. Dabei zeigen wir die Exponate ganz anders als in Paris. Dort ist der Louvre strikt in Abteilungen untergliedert was die Unterschiede betont.

In Lens verdeutlichen wir, wie die Kulturen miteinander verbunden sind. Das erlaubt einen völlig neuen Blick auf die Werke."

Dectot geht an Sekhmet vorbei, die ägyptische Göttin in Löwengestalt sitzt groß und stolz auf ihrem Thron. 1500 Jahre später ist die Büste des römischen Kaisers Marc Aurel entstanden.

Einige Schritte weiter hängt das berühmte "Porträt von Baldassare Castiglione" des italienischen Renaissance-Malers Raphael neben dem Fugger-Antlitz des mittelalterlichen deutschen Künstlers Hans Maler zu Schwaz.

Den Abschluss bildet das Gemälde von Eugène Delacroix "Die Freiheit führt das Volk", ein Kultbild, das in allen französischen Schulbüchern abgebildet ist. Der Pariser Louvre hat auch Kronjuwelen nach Lens gegeben.

"Es ist das erste Mal, dass ein großes Museum einen Gesamtüberblick über alle Zivilisationen vom Indus bis zum Atlantik ermöglicht."