Kultur in Krisenzeiten
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Wer kann, bleibt momentan zu Hause, Theater, Kinos, Konzertsäle: alle geschlossen. Müssen wir nun wochenlang auf kulturelle Inspiration verzichten? Nein, im Gegenteil: Es gibt jede Menge Kultur derzeit – kostenlos und auf Abruf.
Alle bleiben #zuhause oder nominieren den Nächsten zur #stayathomechallenge. Auch Künstlerinnen und Künstler: Wir bleiben zu Hause, verkünden sie trotzig – und haben gleich ein ganzes Festival auf die Beine gestellt, das #wirbleibenzuhausefestival. Veranstaltungsort: Instagram.
Ab 18 Uhr treten zeitversetzt unter anderem ESC-Barde Michael Schulte, Lotte, Max Giesinger und Johannes Oerding auf. Der Gig kommt aus dem Wohnzimmer oder vom Veranstaltungsort der Künstlerinnen und Künstler und wird auf deren jeweiligen Instagram-Kanal übertragen.
Tanzen, als ob's kein Morgen gäbe
Was viele Darbietende gerade erst entdecken, ist bei Tanz und Performance teils schon länger gelebte Praxis. Vor allem Pariser Oper und Scottish Ballet hätten schon lange damit experimentiert, erzählt Tanzkritikerin Dorion Weickmann im Gespräch. Das Scottish Ballet bietet gar eine Digital Season.
Die Digitalbühne der Pariser Oper heißt La troisième scène und bietet kurze Clips und längere Stücke. "Ein ganz unglaubliches, kraftvolles, energievolles Spektakel" findet Kritikerin Weickmann zum Beispiel Les Indes Galantes, die Umsetzung einer Barock-Oper von Jean-Philippe Rameau.
Auch Klassik lässt sich virtuell genießen
"Oper trotz Corona" verspricht auch die Staatsoper Stuttgart. Wer vom heimischen Sofa aus gerne groß und festlich ausgeht, findet hier jeweils für eine Woche ein Stück aus dem Repertoire. Aktuell im Programm: Sergej Prokofjews "Die Liebe zu drei Orangen", inszeniert von Meisterregisseur und "Tatort"-Enfant-Terrible Axel Ranisch.
Und noch mehr Prokojkew: "Live. Für alle. Überall" sendet die Dresdner Philharmonie, derzeit Prokofjews Konzert für Klavier und Orchester Nr. 2 g-Moll und Peter Iljitsch Tschaikowskis Sinfonie Nr. 6 h-Moll "Pathétique".
Klassiker für Nicht-Klassik-Freunde
Für melancholische Menschen und Country-Freunde hält Kultursender Arte im linearen Programm einen Klassiker bereit, der Darstellerin Reese Witherspoon zu Ruhm und einem Oskar verhalf: Walk the Line. Heroe Johnny Cash soll den brillanten Hauptdarsteller Joaquin Phoenix seinerzeit selbst ausgesucht haben.
Wer es etwas härter mag, dem deutsch-französischen Kanal aber treu bleiben will: Rosa von Praunheims Härte ist noch bis zum 25.3. in der Mediathek verfügbar. Der dokufiktionale Stoff verwebt "die wahre Geschichte des Karateweltmeisters Andreas Marquardt, der zum brutalen Zuhälter wurde" mit fiktionalen Elementen.
Museumsbesuch vom Sofa aus
Zu Hause ist das das neue Draußen: Etliche Künstler, Museen, Theater und Kulturinstitutionen nehmen #SocialDistancing Ernst – und senden und streamen von Daheim. Zum Beispiel Jasmin Schreiber, deren Debütroman "Marianengraben" kürzlich erschien. Sie organisiert Pyjama-Lesungen, etwa mit Autorin Anja Rützel.
Am 21.3. um 19 Uhr eröffnete das bob – boxoff berlin die virtuelle Ausstellung "Der kleine Herr Tod" mit Zeichnungen von Ulrike Haseloff. "Der kleine Herr Tod hat einen waschechten Burnout", hieß es im Ankündigungstext. "Grund sind die verdammten Hühner." Die Eröffnung wurde auf Youtube übertragen.
Kunst kommt von Können
Auch das MoMA, das Museum of Modern Art in New York, bleibt vorerst vorsichtshalber geschlossen. Kein Grund zur Verzweiflung. Seit dem 20.3. ist die Mini-Serie Self-Portraits by Women Artists online. In der Reihe "Take 5" werden exemplarisch fünf Kunstwerke vorgestellt. Und anglophile Kinder und Erwachsene können ihre "Learning Curve" nach oben schnellen lassen.
Schon einige Zeit ist die zweite Staffel von "Bad Banks" online, der Grimmepreis-gekrönten Serie über Banken, Gier und menschliche Abgründe. Grund zum Gruseln bietet zum Beispiel die famose Désirée Nosbusch, die den Machtmenschen Christelle Leblanc spielt.
Zusammen mit anderen Künstlerinnen wie Anette Frier oder Caroline Link berichtet Désirée Nosbusch auf dem Portal FilmFrauen von ihren Erfahrungen.
So gehen die Ideen fürs Ausgehen nicht aus
Wer´s noch anspruchsvoller mag, geht in die Schaubühne. Zumindest virtuell. Unter dem Titel "Zwangsvorstellungen" zeigt das Theater Highlights aus aus allen Jahrzehnten – täglich zwischen 18.30 und 24 Uhr.
Alternativ geht´s in den Club. Nur Leichtsinnige und Hazardeure suchen den noch im Real Life. Corona-Kenner gehen virtuell aus. Unter United We Stream haben sich die Berliner Clubs zusammengetan. Täglich zwischen 19 und 24 Uhr werden DJ-Sets aus verschiedenen Locations übertragen. Gönner geben sogar ein virtuelles Wasser oder Bier aus.
Club ist zu arty? Richtig was auf die Ohren gibt es beim Konzert der Mittelalterband Corvus Corax am 21.3. um 19 Uhr. Schlagzeuger Norbert Drescher – Nomen est Omen – erzählt im Interview, wie sich die Band in der Krise neu orientiert – und einen Teil der Erlöse aus dem Konzert spenden will.
Beethoven und Kinderkrams: Highlights aus unserem Programm
Besonders empfehlen wir in diesen Tagen von unseren vielen Hörspielen und Features und Kinderhörspielen ein Stück über das Zu-Hause-Bleiben: "Die weite weite Sofalandschaft" über entgrenzte Arbeit und grenzenlosen Urlaub. Anlässlich des 250. Geburtstags des Komponisten finden Sie jede Menge Musik und Informationen auf unserem Beethoven-Portal.
Unsere Musikredaktion entführt Sie außerdem zu Chören nach Kuba oder zu einem Sängerfest in Estland. Besuchen Sie mit uns Musikerstätten auf der "Leipziger Notenspur". Und es gibt noch jede Menge mehr Alternativen: Das Streaming-Angebot der Berliner Staatsoper bietet jeden Abend eine neue Oper.
Lesebühnen gehen online
Statt ihrer Veranstaltungen in der Berliner Volksbühne bietet die Lesebühne "Reformbühne Heim & Welt" ihre Lesungen bei Facebook an.
Mitveranstalter Falko Hennig (MP3-Audio)
freut sich über die zahlreichen Zuschauer und Kommentare. Auch die Brauseboys oder LSD - Liebe statt Drogen ziehen mit ihren Autorinnen und Autoren wie Eva Mirasol derzeit ins Netz um.
Ein Kindermädchen als Femme fatale
Anknüpfend an den Erfolg des südkoreanischen Films "Parasite", der bei den Oscars als bester Film ausgezeichnet wurde, empfiehlt
unsere Filmkritikerin Anke Leweke (MP3-Audio)
, sich den Klassiker des südkoreanischen Kinos "The Housemaid" von 1960 auf YouTube anzusehen. Der Horrorfilm erzählt von einem Hausmädchen als Femme Fatale, das mit dem Familienvater ein Verhältnis beginnt.
Um ein griechisches Kindermädchen geht es in dem Film "Ein Atem" bei einem um Perfektionismus bemühten Paar in Frankfurt. Eines Tages verschwindet das ihr anvertraute Kind spurlos. Der Film ist bis 25. März in der Arte-Mediathek zu sehen.
120 Museen in einer Ausstellung
Ein Museumsbesuch lässt sich derzeit leicht mit Googles Online-Ausstellung "Once Upon A Try" ersetzen. Diese bringt uns Wissenschaftler, Künstler und Aktivisten näher, in Zusammenarbeit mit 120 Museen und Institutionen weltweit. Unter anderem kann man sich von Tilda Swinton höchstselbst die Geschichte des Universums erzählen lassen.
Über Google Arts & Culture lassen sich insgesamt 500 Museen der ganzen Welt online besichtigen, darunter das British Museum, die Uffizien in Florenz und das Rijksmuseum in Amsterdam.
Konzerte, Theater und Oper fürs Wohnzimmer
Die Politikwissenschaftlerin Jana Puglierin empfiehlt Twitterkonzerte. Der Pianist Igor Levit macht seit dem 12. März in seinem Wohnzimmer Musik, die er live auf Twitter streamt. Täglich um 19 Uhr kann man dabei sein.
Auch mehrere deutschsprachige Bühnen bieten kostenlos Livestreams oder Aufzeichnungen aus dem Archiv an. Die Staatsoper unter den Linden zeigt in ihrem "Corona TV" täglich von 16 bis 24 Uhr ein neues Video, als nächstes stehen "Manon", "Tristan", "Carmen" und "Medea" auf dem Programm.
Die Bayerische Staatsoper streamt ihre Aufführungen live unter staatsoper.tv. Die Elbphilharmonie bietet Konzerte als Video on Demand auch zum Nachhören an, ebenso die Wiener Staatsoper.
Die Plattform Nachtkritik zeigt jeden Abend eine Aufführung aus einem anderen Theater.
Gut gefüllte Mediatheken
In der ARD-Mediathek ist derzeit neben Serien wie "Babylon Berlin" auch Ulrich Seidels Paradies-Trilogie zu sehen: Liebe, Glaube, Hoffnung. Der ARD-Dreiteiler "Unsere wunderbaren Jahre" erzählt nach dem Bestseller von Peter Prange die Geschichte des Wirtschaftswunders anhand einer Fabrikantenfamilie. Wir empfehlen diese Serie
(MP3-Audio)
mit Anna Maria Mühe.
In der ZDF-Mediathek kann man den Dreiteiler "Unterleuten" anschauen. Der Bestseller von Juli Zeh handelt von einem brandenburgischen Dorf, in dem Ex-Berliner und Alteingessene aufeinandertreffen.
Um junge Kulturschaffende um die 30 geht es in der zehnteiligen Comedy-Serie "Fett und Fett". Sie torkeln von Party zu Party und von Niederlage zu Niederlage – egal ob bei der Bewerbung, beim Flirten oder in der Therapiesitzung. "Fremdschäm-Anlässe" in jeder Szene garantiert unser Kritiker Gerd Brendel in den
Kulturtipps (MP3-Audio)
, in denen er auch die ZDF-Serie "Deutschlands große Clans" über Familienunternehmen empfiehlt.
Ebenfalls sehenswert ist die sechsteilige Krimiserie "The Bay", die über sieben Millionen Menschen in Großbritannien gesehen haben. Alle Teile kann man sich bis zum 11. April anschauen.
Die Arte Mediathek bietet nicht nur zahlreiche Dokumentationen an, sondern auch Konzerte von Pop bis Klassik und dazu Spielfilme.
Bis zum 10. April kann man sich noch den deutschen Film "Wild" ansehen, der von einer Liebesgeschichte zwischen einer Angestellten und einem Wolf handelt. Dafür hat Regisseurin Nicolette Krebitz 2016 den Bayerischen Filmpreis bekommen.
Für längere Abende kann man aus mehreren europäischen Serien wählen, die jeweils in ganzen Staffeln abrufbar sind, darunter "Mammon", die von einem Finanzskandal handelt sowie die Krimis "Follow the Money - Die Spur des Geldes" und "Jordskott - Die Rache des Waldes".
Lesenswerte Bücher
Und natürlich gibt es noch das gute alte Buch. In Zeiten der Krise empfiehlt sich die klassische Erzählsammlung "Decamerone". Mit 1000 Seiten ist das Buch auch dick genug, um die Leserin oder den Leser über einige Tage bei Laune zu halten.
Wer es etwas zeitgemäßer mag, dem empfiehlt der Journalist Martin Bialecki den Roman "Ein wenig Leben" von Hanya Yanagihara. Das Buch ist etwa genauso lang wie Decamerone und dauert in der Hörfassung 34 Stunden. Es erzählt von der Freundschaft von vier Männern in New York. "Ein fantastisches Buch", sagt Bialecki.
Der Journalist Nikolaus Blome hat ein älteres Buch von Frank Schirrmacher für sich entdeckt: "Minimum" geht der Frage nach, was mit einem Land passiert, in dem es immer mehr Singlehaushalte und immer weniger Familien gibt. "Ein spannendes Buch, blendend geschrieben", so Blome.
Journalistin Anna Sauerbrey empfiehlt das tausendseitige Buch "Diese Wahrheiten: Eine Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika". Die US-amerikanische Historikerin Jill Lepore beschreibt darin die Zeit von Kolumbus' Entdeckung bis in die Gegenwart.
Webcomic über Reggae
Eine Alternative zu den althergebrachten Medien bietet der Webcomic "Redemption Songs" von Krish Raghav, der von dem Einfluss chinesischer Arbeitsmigranten auf die jamaikanische Musik erzählt.
Auch Sarah Bosetti hat neue, digitale Wege gefunden ihr Publikum zu erreichen. Sie verfasst zum Beispiel Liebeslyrik aus Hasskommentaren auf Facebook und schreibt und liest in den sozialen Netzwerken derzeit einen Fortsetzungsroman, verfasst aus Ideen und Kommentaren ihrer Fans.