Die Selbstzensur ist allgegenwärtig
Immer wieder stürmen religiös oder national motivierte Randalierer Ausstellungen. Russische Künstler können sich kaum noch offen ausdrücken. Und wenn aus Kunst gar politischer Aktivismus wird, endet das schnell im Gefängnis. So sitzt der Protestkünstler Pjotr Pawlenski in Haft.
Es ist im letzten Jahr noch einmal ernster geworden in Russland:
"Wir haben jetzt das Gefühl, dass es eine bestimmte Liste mit Themen gibt, zu denen man sich besser nicht äußert."
Das sagt Sergej Popow, Galerist. Es gibt also ein paar Tabuthemen.
"Für mich gibt es keine. Es gibt nur Themen, die für mich uninteressant sind. Zum Beispiel Religion. Putin interessiert mich auch nicht."
Das sagt Jewgenij Granilschikow, preisgekrönter Nachwuchskünstler und Teilnehmer der diesjährigen Moskauer Kunst-Biennale. Die Frage nach der Selbstzensur weist er von sich. Tatsache ist, dass immer wieder radikalreligiöse und nationalistische Randalierer Ausstellungen stürmen, Kunstwerke zerstören, Besucher und Künstler angreifen. Die Selbstzensur sei mittlerweile wieder allgegenwärtig, sagt Sergej Popow:
"Das ist ein trauriges, schweres Thema, weil Selbstzensur vor allem in den Institutionen auftaucht, mit denen wir zusammen arbeiten. Eine Ausstellung, die wir in einem öffentlichen Saal zum Jubiläum unserer Galerie geplant hatten, wurde aus politischen Gründen zensiert. Ich sage Ihnen jetzt nicht, wo das war."
Ohrläppchen abgeschnitten, nackt in Stacheldraht gewickelt
Der extremste Künstler Russlands ist wahrscheinlich Pjotr Pawlenski. Zur Zeit ist er in Haft. Er hat eine Tür der Lubljanka angezündet, Sitz des gefürchteten Geheimdienstes, Symbol des Terrors gegen die eigene Bevölkerung. Im Gericht erläuterte er den Journalisten die Tat.
"Ich denke, das muss man als Geste sehen, die brennende Tür, eine Ohrfeige in das Gesicht der Terrorbedrohung. Der Staat ruft ja dazu auf, gegen den Terror zu kämpfen. Genau das mache ich. Der FSB bedroht 146 Millionen Menschen. Militärgerichte unterdrücken die freie Meinungsäußerung."
Aktionskünstler Pawlenski hat sich auch schon mal den Mund zugenäht, um gegen die Verhaftung der Performer von Pussy Riot zu protestieren. Er hat sich nackt in Stacheldraht gewickelt und seinen Hodensack auf den Roten Platz genagelt. Um gegen den Einsatz der Psychiatrie gegen unliebsame und unbequeme Menschen zu protestieren, setzte er sich nackt auf das gefürchtete Serbski-Wissenschaftszentrum für Sozial- und Gerichtspsychiatrie in Moskau, in dem mit Hilfe der Medizin die Seelen gesunder Menschen gebrochen wurden. Dort schnitt er sich ein Ohrläppchen ab.
Wenn der Galerist Sergej Popow über Einschränkungen der Kunst spricht, legt er Wert darauf, diese von politischem Aktionismus zu trennen.
"Ich halte die letzte Aktion von Pawlenskij, als er die Tür der Lubjanka in Brand steckte, nicht für Kunst. Alle andere Aktionen schon, und ich habe sie mit Interesse verfolgt."
Auch die Aktion der Performancegruppe Pussy Riot in der Hauptkirche der russischen Orthodoxie war für Popow eher politischer Aktionismus denn Kunst.
"Postsowjetische Geschichte hat sich in ein Drama verwandelt"
Nachwuchskünstler Granilschikow thematisiert in seiner aktuellen Ausstellung im Moskauer Museum für Zeitgenössische Kunst den Krieg in Syrien. Er hat Sätze aus Zeitungen ausgeschnitten, sie dann aber mit der Rückseite nach oben aufgeklebt, so dass das Wesentliche verborgen bleibt. Der für die russische Gesellschaft viel prägendere Krieg in der Ukraine, mache ihn stumm, sagt er.
"Das hat sehr viele Gründe. Zunächst ist das was Persönliches. Wir haben fast alle Freunde oder Verwandte dort. Es ist auch eine postsowjetische Geschichte, die sich jetzt in ein sehr schwieriges Drama verwandelt hat. Es ist keine einfache Geschichte. Es greift tief zurück in irgendwelche Jahrzehnte alten Wurzeln."
Politische Kunst im öffentlichen Raum in Moskau ist zurückhaltend. Granilschikow hat auf ein weisses Blatt zwei mal das Wort Ballett geklebt, nur einmal ist das a durch ein u ersetzt, Bullet, Geschoss, steht da.
"Bei uns in Russland gibt es die Tradition, anstelle politischer Ereignisse Ballett zu zeigen. Und das Ballett erinnert deshalb zum Beispiel sofort an die Ereignisse in den Jahren '92/'93."
Vor allem aber an das Fernsehen der Sowjetunion. Nach deren Ende, versuchten in den Jahren 1992 und 1993 sowjetische Kader zu retten, was zu retten war. Erfolglos, damals. Heute ist die Welt für diese Leute wieder ein bisschen in Ordnung. Auch, weil die künstlerische Aufarbeitung des Terrors der Sowjetunion verhindert wird. Galerist Popow:
"Diese Liste der unerwünschten Themen wird ständig erweitert. Eigentlich sind alle darauf, die wir jetzt im Interview angesprochen haben."
Keine guten Aussichten für das nächste Jahr.