Kultur und Werte

Von Christina Weiss |
"Werte" oder besser: die Diskussionen um Werte haben Konjunktur. In letzter Zeit ist viel von der "Werteordnung des Grundgesetzes", von "Europas Werten", von "Wertegemeinschaften", der "Sicherung von Grundwerten" oder einer "Renaissance der Werte" die Rede. Werte sind mal christlich, mal humanistisch, liberal oder sozialdemokratisch, sind "ewige" oder zumindest "Leit-" oder "Grundwerte".
Welche Faszination und Bindungskraft von einem an Werten orientierten, auf Werte bezogenen, aus Werten gelebten Leben immer noch ausgehen kann, zeigt uns die weltweite Trauer um den Tod eines Papstes, der nicht nur als Amtsträger und Kirchenführer, sondern vor allem auch als Persönlichkeit zu überzeugen vermochte, die aus einem fest gefügten Wertekosmos redete und handelte.

Der Werte-Begriff hat erst im 19. Jahrhundert - von der politischen Ökonomie her - Einzug in die Philosophie gehalten und den antiken Begriff des "Guten" - stets in Einheit mit dem Wahren und Schönen Gedachten - ersetzt. Der besondere Modus des "Wertes" ist derjenige der Geltung, den diejenigen, die sich bestimmten Werten verschrieben haben, für diese - oft mit Leidenschaft bis zu Dogmatismus und Intoleranz -beanspruchen. Daraus ergeben sich Fragen, die bis heute nicht abschließend zu beantworten sind: Wie lässt sich die offensichtlich kontingente Entstehung von Werten mit dem Gedanken von deren Objektivität und zeitloser Gültigkeit in Einklang bringen? Wie wandeln sich Werte und wie entstehen neue?

Werte sind Kultur, sind ein Teil der Kulturen, denn sie gehören zu den Ordnungen, mit denen der Mensch sich umgibt, mit denen er sich organisiert, seine animalischen Dispositionen zähmt und sich gemeinschafts- und gesellschaftsfähig macht. Darum hat jede Kultur ein System von Werten, deren Missachtung, Beschädigung, Vernichtung sie ahnden muss. Wohin Gemeinschaften driften, die von ihren Mitgliedern kompromisslos die Anerkennung bestimmter Werte fordern, ohne diese kritisch zu hinterfragen zeigt Heinrich Manns "Untertan" genauso wie Carl Zuckmayers "Hauptmann von Köpenick".

Jede Kultur hat ihre Werte, auch jede Religion, die stets Teil einer Kultur ist. Werte haben von Anfang an eine Bindungswirkung, und von der Bindungskraft ihrer Werte hängt das Überleben jeder Staats- und Lebensform ab.

Wir leben heute in einer Zeit, die Werten, auch wenn sie ohne überhöhende Adjektive wie "heilig", "ewig" oder "absolut" daher kommen, skeptisch gegenübersteht. Das ist nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts mit Werten und deren eklatantem Missbrauch nicht verwunderlich. Gleichwohl hat die Suche nach Gewissheiten, nach Sinn und nach Orientierung nicht aufgehört. Dass wir dennoch in Wertegemeinschaften leben, ist vielen nicht bewusst oder wird erst bewusst, wenn die Werte, die eine Art kulturelle Grundierung darstellen, sich mit Werten anderer Kulturen reiben oder gar kollidieren. Ziel jeder Erziehung muss es immer auch sein, ein Bewusstsein für die Notwendigkeit von Werten und Werthaltigkeit zu wecken. Das heißt nun nicht, dass der Geltungsanspruch eines ganz bestimmten, unveränderbaren Kanons von Werten auf diesem Wege vermittelt werden müsste.

Die Kunst, vor allem die Literatur, leistet einen wichtigen Beitrag zu einer Sensibilisierung für Werte. Friedrich Schiller war einer derjenigen, die vor 200 Jahren mit den Waffen des geschriebenen und gesprochenen Wortes mit großer Leidenschaft und Pathos für Werte gekämpft haben. Vernunft, Freiheit, Liebe - das waren für Schiller Werte, für die er die ganze Kraft seiner poetischen Begabung einsetzte und die er den großen Gestalten seiner Dramen in den Mund legte. Schiller zögerte auch keinen Moment, die Mächtigen und Machthaber dazu aufzurufen, bestimmte Werte nicht nur zu verteidigen, sondern im Sinn einer Mission auch über die Welt zu bringen. Voraussetzung freilich: Sie hätten vorher die Menschen ihres eigenen Königreiches, so heißt es im "Don Karlos", zu den glücklichsten der Welt, weil ihres Wertes bewussten Menschen, gemacht. Wir können die Frage nach Werten in einer unendlich komplexen Welt 200 Jahre nach Schillers Tod nicht allein mit ihm und seinen Gedanken beantworten. Aber die Beschäftigung mit seinem Werk kann uns die Erfahrung vermitteln, dass gerade die Literatur uns lehren kann, dass Werte ein Teil unserer Kultur sind, dass wir alte Werte haben, dass wir neue Werte entwickeln müssen und dass unsere Kultur ohne solche Werte, denen sich zumindest eine relative Mehrheit der Mitglieder unserer Gesellschaft verpflichtet fühlt, keine Zukunft hat.

Dr. Christina Weiss, geboren 1953, hat Literaturwissenschaft, Germa-nistik, Italienische Philologie und Kunstgeschichte studiert. Sie war Redakteurin beim Kunstmagazin Art und schrieb Literatur- und Kunst-kritiken u. a. für die Süddeutsche Zeitung, die Zeit und den Deutsch-landfunk. Von 1991 bis 2001 war Christina Weiss Kultursenatorin in Hamburg. Seit Oktober 2002 ist sie Kulturstaatsministerin.