Kulturelle Aneignung der DDR

Wenn Westdeutsche das Leben der Ostdeutschen erklären

11:29 Minuten
Ein Wartburg steht neben einem Trabant, im Hintergrund Plattenbauten.
Auch mit Blick auf Ostdeutschland kann man von einer kulturellen Aneignung sprechen. © Getty Images / Hulton Archive / Tom Stoddart
Frank Meyer im Gespräch mit Andrea Gerk |
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In den USA wird die Debatte über kulturelle Aneignung aufgeheizt geführt. Ein amerikanisches Phänomen? Absolut nicht. Man muss sich nur einmal anschauen, wie Bücher und Filme von der DDR erzählen.
In den USA wurde in den vergangenen Wochen aufgeregt über den Bestseller "American Dirt" von Jeanine Cummins diskutiert. Anfangs wurde das Buch kräftig bejubelt, aber dann kam ein Vorwurf auf: Die weiße Autorin Jeanine Cummins beute in dem Roman das Leid der mexikanischen Flüchtlinge aus, sie verstoße gegen das Verbot der "kulturellen Aneignung".
Nun könnte man das als typisch amerikanische Debatte abtun. Oder aber darüber nachdenken: Gibt es solche Fälle auch bei uns? Wird den Ostdeutschen zum Beispiel ihre eigene Geschichte allzu oft von westdeutschen Medien, Autoren und Filmemachern erzählt? Ist das "kulturelle Aneignung"?

Die Christoph-Hein-Kontroverse

Ein Beispiel dafür ist die Christoph-Hein-Kontroverse vom vergangenen Jahr. Der Schriftsteller hatte sich in einem Text aus seinem Buch "Gegenlauschangriff - Anekdoten aus dem letzten deutsch-deutschen Kriege" mit dem Film "Das Leben der Anderen" von Regisseur Florian Henckel von Donnersmarck auseinandergesetzt.
Heins Vorwurf an den Film: Er behaupte zwar, von der DDR der 1980er Jahre zu erzählen – tatsächlich aber verfehle der Film völlig die Realität dieser Zeit: Er erzähle ein "Gruselmärchen", "das in einem sagenhaften Land spielt, vergleichbar mit Tolkiens Mittelerde".
Man kann das als kulturelle Enteignung verstehen, und diese Erfahrung hat sich für Hein noch einmal verdoppelt, als ihm in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vorgeworfen wurde, er nehme mit seinem Text eine relativierende, frivole Pose gegenüber dem DDR-Unrecht ein. Von einem in Westdeutschland sozialisiertem Redakteur über die Gültigkeit der eigenen Erinnerung belehrt zu werden, muss auf den streitbaren Schriftsteller entschieden anmaßend gewirkt haben.

Irritierende Erfahrung

Bei Filmen haben Ostdeutsche öfter solche irritierenden Erfahrungen mit der Aneignung ihrer Geschichte gemacht, wenn etwa beim ARD-Eventfilm "Die Frau vom Checkpoint Charlie" die Hauptdarstellerin Veronika Ferres als Sachverständige für Stasi-Methoden interviewt wurde oder Michael "Bully" Herbig die Flucht einer Familie aus der DDR für seinen "Ballon"-Thriller verwendet.
In der jüngeren Literatur stellt sich das anders dar. Es gibt mehrere Beispiele für einen sorgfältigen und empathischen Umgang mit den Erfahrungen der "anderen Seite". Der Roman "Die grüne Grenze" von Isabel Fargo Cole wäre da zu nennen, die "Deutschboden"-Bücher von Moritz von Uslar oder auch Saša Stanišićs "Vor dem Fest."

Identitätsfragen

Bei Stanišić sieht man, wie schwierig die Zugehörigkeit zu einer Identität zu fassen ist. Hat der im kommunistischen Jugoslawien geborene und mit 14 Jahren nach Westdeutschland übergesiedelte Autor eine westlich oder östlich geprägte Identität?
Sehr klar hat die britische Autorin Zadie Smith dieses Problem benannt. Sie ist die Tochter einer Jamaikanerin und eines weißen Engländers. 2017 hat sie in einem Essay geschrieben: Die Person des Künstlers dürfe bei der Beurteilung von Kunst oder Literatur keine Rolle spielen, denn "wenn das Argument der Aneignung mit einem essentialistischen Rassenbild einhergeht", dann werde es bald völlig absurd: "Sind meine Kinder zu weiß, um sich mit dem Leid der Schwarzen zu beschäftigen? Wie schwarz ist schwarz genug?" Die eigentliche Frage sei laut Zadie Smith, ob der Schaffende seinem Sujet gerecht werde.
Das ist der entscheidende Punkt, eine ästhetische Frage: Wie einfühlsam und durchdacht und erfindungsreich, wie fern von Klischees oder Voyeurismus wird in einem künstlerischen Werk vorgegangen?

Obszönes Bestsellerprodukt

Auf dieser Basis wäre ein melodramatisches Märchen wie "Das Leben der Anderen" genauso zu kritisieren wie ein jüngerer "Aneignungsfall" aus dem Bereich der Literatur. Takis Würgers Roman "Stella" ist nicht deshalb problematisch, weil hier ein nachgeborener Deutscher von einer Jüdin in der Zeit des Nationalsozialismus erzählt, sondern weil er mit einer krassen Sensationslust agiert; weil er Nazis, Sex, Ausschweifungen und Judenverfolgung ineinander rührt und so ein obszönes Bestsellerprodukt herstellt.
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