Kulturelle Autonomie nur auf dem Papier

Von Bert-Oliver Manig |
Heute vor 70 Jahren verkündete die deutsche Regierung die Errichtung des "Protektorats Böhmen und Mähren". Es folgten sechs Jahre der Ausbeutung des wehrlosen tschechischen Volks für die deutsche Kriegswirtschaft. Die im Protektorat gewährte kulturelle Autonomie täuschte: Langfristig war die Zerstörung der tschechischen Identität und die Vertreibung der Tschechen aus ihrer Heimat geplant.
"Artikel 1: Die von den deutschen Truppen im März 1939 besetzten Landesteile der ehemaligen Tschechoslowakischen Republik gehören von jetzt ab zum Gebiet des Großdeutschen Reiches und treten als 'Protektorat Böhmen und Mähren' unter dessen Schutz."

16. März 1939: Einen Tag nach dem handstreichartigen Einmarsch der deutschen Wehrmacht in der tschechischen Hauptstadt verkündete Reichsaußenminister von Ribbentrop auf der Prager Burg das Ende der Tschechoslowakischen Republik: Kraft eines Erlasses Adolf Hitlers gehörten die Zentren der tschechischen Kultur und Wirtschaft Prag und Pilsen, Brünn und Ostrau nun zum Deutschen Reich; die Slowakei wurde ein deutscher Satellitenstaat.

Hitler, der bislang die Expansion des deutschen Machtbereichs mit dem Recht auf nationale Selbstbestimmung gerechtfertigt hatte, war diesmal in Erklärungsnöten: Lediglich 200.000 Deutsche, aber mehr als sieben Millionen Tschechen lebten 1939 in dem annektierten Gebiet. Deshalb berief sich Hitler nun auf historisches Recht und die Idee einer deutschen Mission in Mitteleuropa: Böhmen und Mähren, die beiden Länder der böhmischen Krone, hatten seit dem Mittelalter zum Heiligen Römischen Reich deutscher Nation gehört und waren seit 1526 von den Habsburgern regiert worden.

Hitler: "Da habe ich nun das alte deutsche Recht wieder durchgesetzt und ich habe wieder vereint, was durch Geschichte und geographische Lage und nach allen Regeln der Vernunft vereint werden musste."

Doch Hitlers Wunschvorstellung, als Vollender der deutschen Reichsidee in die Geschichte einzugehen, war nicht der einzige Grund für die Einverleibung des Nachbarlandes: Die hoch entwickelte tschechische Industrie und das Waffenarsenal der tschechoslowakischen Armee waren wichtige Machtfaktoren im bevorstehenden Krieg.

Hitler kam es auf eine möglichst reibungslose Ausbeutung des tschechischen Volks im Rahmen der deutschen Kriegswirtschaft an. Daher stellte er Germanisierungspläne, wie sie von Rassenideologen und sudetendeutschen Funktionären geschmiedet wurden, hintan. Er beließ den Staatspräsidenten Emil Hacha im Amt und gewährte den Tschechen kulturelle und administrative Autonomie:

"Artikel 3: Das 'Protektorat Böhmen und Mähren' ist autonom und verwaltet sich selbst. Es übt seine ihm im Rahmen des Protektorates zustehenden Hoheitsrechte im Einklang mit den politischen, militärischen und wirtschaftlichen Belangen des Reiches aus. Diese Hoheitsrechte werden durch eigene Organe und eigene Behörden mit eigenen Beamten wahrgenommen."

Die deutsche Staatsbürgerschaft wurde den Tschechen vorenthalten. Das sollte sich sogar als Vorteil erweisen: So mussten die jungen Männer nicht für Hitler in den Krieg ziehen. Doch wie wenig die kulturelle Autonomie wert war, zeigte sich im November 1939, als die Besatzer willkürlich die Schließung der tschechischen Universität von Prag verfügten. Auch nutzten die Deutschen die Enteignung der Juden zielstrebig dazu, die Schlüsselpositionen der tschechischen Wirtschaft einzunehmen: Die Waffenschmiede Skoda kam ebenso in deutsche Hand, wie die wichtigsten Banken, die unter der Dresdner und der Deutschen Bank aufgeteilt wurden - das Arisierungsgeschäft im "Protektorat" versprach fette Provisionen. Und selbst im Kleinhandel machten sich damals zahllose Deutsche aus dem Reich und dem Sudetenland breit, wie der US-Diplomat George Kennan beobachtete:

"Als Beispiel kann man einen kleinen tschechisch-jüdischen Hutladen nehmen, der jetzt von einer deutschen kommissarischen Geschäftsführerin geleitet wird. Zwei deutsche Frauen, die nichts anderes zu tun haben, als die Geschäftsführung zu überwachen, und die über keinerlei Branchenerfahrung verfügen, erhalten zusammen ein Gehalt von 6000 Kronen, während für die acht tschechischen Angestellten insgesamt nicht mehr als 5000 Kronen Gehalt ausgezahlt werden."

Zu Recht fühlten sich die Tschechen bald als Opfer einer Politik der Germanisierung ihres Landes. Was das tschechische Volk bei einem deutschen Endsieg erwartet hätte, machte der von Hitler eingesetzte Reichsprotektor in Böhmen und Mähren, SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich, im Oktober 1941 in einer geheimen Rede deutlich:

Heydrich: "Im Augenblick dürfen wir aus kriegswichtigen und taktischen Gründen die Tschechen nicht zur Weißglut bringen, aber die Grundlinie muss unausgesprochen bleiben, dass dieser Raum einmal deutsch werden muss und dass der Tscheche in diesem Raum letzten Endes nichts mehr verloren hat."