Kulturelle Besonderheiten frühkindlicher Bindung
Fast die Hälfte der Mädchen und Jungen wächst in einer Familie auf, die ihre kulturellen Wurzeln außerhalb Deutschlands hat und damit auch kulturell anders geprägt ist. Worin genau die jeweiligen Besonderheiten liegen, untersucht die Forschungsgruppe "Entwicklung, Lernen und Kultur" der Universität Osnabrück.
Mit deutschen Mittelschichtsfamilien in Berlin und westkamerunischen Nso-Bauernfamilien wurden zwei sehr verschiedene kulturelle Kontexte gewählt, um gerade durch den Kontrast Typisches zu entdecken.
"Einen ganz großen Unterschied, den man schon bei kleinen Kindern beobachten kann, dass es nicht nur eine sehr wichtige Bezugsperson gibt, sondern dass ein Kind in Kamerun mit sehr vielen unterschiedlichen Bezugspersonen groß wird, Geschwister, Onkel, Tanten, die ganze Großfamilie."
Hiltrud Otto von der Universität Osnabrück lebte mehre Monate bei den Nso-Bauern in Nordwestkamerun, einem traditionellen, hierarchisch organisierten Clan:
"'"Das Kind wird sowieso meist von irgendjemand am Körper getragen und die Personen registriert sehr schnell, wenn es dem Kind nicht gut geht und reagiert sofort. Das sind Sachen, die würden bei uns anders laufen.""
Die Psychologin beschäftigte sich bereits in Deutschland intensiv mit der Art und Weise, wie Kinder sich binden. Nach der Bindungstheorie von John Bowlby gehen Kinder vor allem zu ihren Eltern, speziell den sorgenden Müttern, enge Beziehungen ein, und sie sind es vor allem, die sie in Stresssituationen beruhigen können. Gerade das erlebte die Psychologin in Kamerun anders:
"Es ist sehr eindrucksvoll, wenn man sieht, wie einjährige Kinder in Kamerun, wie die in einer Situation, die etwas stressvoller ist, umgehen, nämlich, die sind unglaublich ruhig."
Die Kinder weinen nicht, wenn jemand Fremdes sie auf den Arm nimmt, selbst dann nicht, wenn die Person weiß ist.
"Bei uns gilt ein Kind als sicher gebunden, das die Aufmerksamkeit der Mutter sucht. Und das würde in Kamerun als ein Verhalten von Unreife und schlechtem Verhalten, schlechter Bindung, würde so interpretiert werden."
Heidi Keller ist Psychologieprofessorin an der Universität Osnabrück und leitet die
Forschungsgruppe "Kultur, Lernen und Entwicklung". Die untersucht, wie verschiedene kulturelle Konzepte entscheiden, wie ein Kind ernährt, geschützt, getragen, gekleidet, gebildet wird und nutzt den Kontrast, um überhaupt erst Typisches zu erkennen.
"Das deutsche Baby erlebt Blickkontakt und Objektstimulation, ist umgeben von kiloweise Spielzeug und auch das permanente Verbalisieren."
Das Kind steht im Mittelpunkt und hört unentwegt: "Ach, mein lieber Schatz, bist du süß, ach spielst du schön, Ja. Wie du lachst!" Und doch liegt es die meiste Zeit in seinem Bett oder Kinderwagen, getrennt von seinen Bezugspersonen und darf Gegenstände erkunden – aus kamerunischer Sicht eine große Einsamkeit.
"Das kamerunische Kind erfährt permanenten Körperkontakt von sehr vielen verschiedenen Personen und sehr viel Körperstimulation und wird dadurch früh motorisch unabhängig und auch in der Lage eigenverantwortlich zu handeln."
Die Mutter bewegt das Baby vor ihrem Körper auf und ab, ruft in einem Singsang seinen Namen und körperlich erfährt das Kind dabei: Das bin ich.
Gleichzeitig formt die Frau archaische, rhythmisch Laute, die das Kind in die Gemeinschaft ringsum einbinden.
"Hier geht es um emotionale Sicherheit. Das heißt, das wird in Beziehungen ausgehandelt Und im dörflichen Kontext geht es mehr um so was wie physische Sicherheit. Da weiß das Kind, es kann ihm nichts passieren, weil es gibt genügend Leute, die sich um es kümmern, wenn es irgendwas hat."
In beiden Kulturen sollen kompetente, selbstbewusste Erwachsene heranwachsen. Und doch sieht Heidi Keller verschiedene Resultate:
"Die Nso-Kinder sind halt sehr, wir sagen, handlungsautonom. Die können sich unabhängig und sehr selbstbestimmt verhalten in verschiedenen Kontexten, bei der Versorgung von jüngeren Geschwistern oder der Hilfe im Haushalt, während das bei unseren Kindern ja in endlosen Verhandlungen, wenn sie mal was im Haushalt helfen oder nur sich selbst nur die eigene Jacke anziehen sollen, gibt es halt endlose Verhandlungen."
Heidi Keller kritisiert nicht nur, dass ihrer Meinung nach hierzulande die Autonomie und individuellen Entwicklung überbetont werden und soziales Verhalten der Kinder dabei auf der Strecke bleibt. Sie sorgt sich vor allem darum, dass Familien aus anderen Kulturen an einer Norm gemessen werden, die nicht ihre ist.
"Kamerun ist geografisch weit weg. Aber viele Familien mit Migrationshintergrund kommen aus solchen dörflichen Kontexten, die die Welt ähnlich sehen, wie die Nso-Bauern, und von daher ist das für uns ein sehr gutes und einleuchtendes Modell, was wir auch heranziehen, um halt auch im Beratungskontext wirksam zu sein."
Migrantenfamilien kann es befremden, wenn ein Kind vor der Aufnahme in die Kita erst mehrere Wochen eingewöhnt werden muss. Sie wundern sich, warum die Erzieherinnen ihrem Kind nicht zutrauen, sich in einer fremden Umgebung anpassen zu können. Dass eine Erzieherin ein fremdes Kind aus Respekt nicht sofort tröstet, wenn es weint, macht sie misstrauisch. Nach ihren Maßstäben wissen bereits Heranwachsende, was für ein Kind gut ist, und sie zweifeln an der Kompetenz der Fachkräfte.
Andererseits kann es für Kinder aus solch einer dörflichen Kultur eine Hürde sein, wenn sie in einer Kita oder Schule ebenso vor der Wahl stehen wie die autonom sozialisierten deutschen Kinder. Hiltrud Otto:
"Dann sind Kinder schon im Morgenkreis überfordert, wenn diese Kinder gefragt werden, wo möchtest du dich denn hinsetzen."
Will man Kindern aus solchen an der Gemeinschaft orientierten Kulturen gerecht werden, so das Fazit der Wissenschaftler, muss man sie deshalb als Teil der Gruppe ansprechen und fördern. Und mehr Gemeinschaftssinn, davon sind Hiltrud Otto und Heidi Keller überzeugt, tut auch den deutschen Mittelschichtskindern gut.
"Einen ganz großen Unterschied, den man schon bei kleinen Kindern beobachten kann, dass es nicht nur eine sehr wichtige Bezugsperson gibt, sondern dass ein Kind in Kamerun mit sehr vielen unterschiedlichen Bezugspersonen groß wird, Geschwister, Onkel, Tanten, die ganze Großfamilie."
Hiltrud Otto von der Universität Osnabrück lebte mehre Monate bei den Nso-Bauern in Nordwestkamerun, einem traditionellen, hierarchisch organisierten Clan:
"'"Das Kind wird sowieso meist von irgendjemand am Körper getragen und die Personen registriert sehr schnell, wenn es dem Kind nicht gut geht und reagiert sofort. Das sind Sachen, die würden bei uns anders laufen.""
Die Psychologin beschäftigte sich bereits in Deutschland intensiv mit der Art und Weise, wie Kinder sich binden. Nach der Bindungstheorie von John Bowlby gehen Kinder vor allem zu ihren Eltern, speziell den sorgenden Müttern, enge Beziehungen ein, und sie sind es vor allem, die sie in Stresssituationen beruhigen können. Gerade das erlebte die Psychologin in Kamerun anders:
"Es ist sehr eindrucksvoll, wenn man sieht, wie einjährige Kinder in Kamerun, wie die in einer Situation, die etwas stressvoller ist, umgehen, nämlich, die sind unglaublich ruhig."
Die Kinder weinen nicht, wenn jemand Fremdes sie auf den Arm nimmt, selbst dann nicht, wenn die Person weiß ist.
"Bei uns gilt ein Kind als sicher gebunden, das die Aufmerksamkeit der Mutter sucht. Und das würde in Kamerun als ein Verhalten von Unreife und schlechtem Verhalten, schlechter Bindung, würde so interpretiert werden."
Heidi Keller ist Psychologieprofessorin an der Universität Osnabrück und leitet die
Forschungsgruppe "Kultur, Lernen und Entwicklung". Die untersucht, wie verschiedene kulturelle Konzepte entscheiden, wie ein Kind ernährt, geschützt, getragen, gekleidet, gebildet wird und nutzt den Kontrast, um überhaupt erst Typisches zu erkennen.
"Das deutsche Baby erlebt Blickkontakt und Objektstimulation, ist umgeben von kiloweise Spielzeug und auch das permanente Verbalisieren."
Das Kind steht im Mittelpunkt und hört unentwegt: "Ach, mein lieber Schatz, bist du süß, ach spielst du schön, Ja. Wie du lachst!" Und doch liegt es die meiste Zeit in seinem Bett oder Kinderwagen, getrennt von seinen Bezugspersonen und darf Gegenstände erkunden – aus kamerunischer Sicht eine große Einsamkeit.
"Das kamerunische Kind erfährt permanenten Körperkontakt von sehr vielen verschiedenen Personen und sehr viel Körperstimulation und wird dadurch früh motorisch unabhängig und auch in der Lage eigenverantwortlich zu handeln."
Die Mutter bewegt das Baby vor ihrem Körper auf und ab, ruft in einem Singsang seinen Namen und körperlich erfährt das Kind dabei: Das bin ich.
Gleichzeitig formt die Frau archaische, rhythmisch Laute, die das Kind in die Gemeinschaft ringsum einbinden.
"Hier geht es um emotionale Sicherheit. Das heißt, das wird in Beziehungen ausgehandelt Und im dörflichen Kontext geht es mehr um so was wie physische Sicherheit. Da weiß das Kind, es kann ihm nichts passieren, weil es gibt genügend Leute, die sich um es kümmern, wenn es irgendwas hat."
In beiden Kulturen sollen kompetente, selbstbewusste Erwachsene heranwachsen. Und doch sieht Heidi Keller verschiedene Resultate:
"Die Nso-Kinder sind halt sehr, wir sagen, handlungsautonom. Die können sich unabhängig und sehr selbstbestimmt verhalten in verschiedenen Kontexten, bei der Versorgung von jüngeren Geschwistern oder der Hilfe im Haushalt, während das bei unseren Kindern ja in endlosen Verhandlungen, wenn sie mal was im Haushalt helfen oder nur sich selbst nur die eigene Jacke anziehen sollen, gibt es halt endlose Verhandlungen."
Heidi Keller kritisiert nicht nur, dass ihrer Meinung nach hierzulande die Autonomie und individuellen Entwicklung überbetont werden und soziales Verhalten der Kinder dabei auf der Strecke bleibt. Sie sorgt sich vor allem darum, dass Familien aus anderen Kulturen an einer Norm gemessen werden, die nicht ihre ist.
"Kamerun ist geografisch weit weg. Aber viele Familien mit Migrationshintergrund kommen aus solchen dörflichen Kontexten, die die Welt ähnlich sehen, wie die Nso-Bauern, und von daher ist das für uns ein sehr gutes und einleuchtendes Modell, was wir auch heranziehen, um halt auch im Beratungskontext wirksam zu sein."
Migrantenfamilien kann es befremden, wenn ein Kind vor der Aufnahme in die Kita erst mehrere Wochen eingewöhnt werden muss. Sie wundern sich, warum die Erzieherinnen ihrem Kind nicht zutrauen, sich in einer fremden Umgebung anpassen zu können. Dass eine Erzieherin ein fremdes Kind aus Respekt nicht sofort tröstet, wenn es weint, macht sie misstrauisch. Nach ihren Maßstäben wissen bereits Heranwachsende, was für ein Kind gut ist, und sie zweifeln an der Kompetenz der Fachkräfte.
Andererseits kann es für Kinder aus solch einer dörflichen Kultur eine Hürde sein, wenn sie in einer Kita oder Schule ebenso vor der Wahl stehen wie die autonom sozialisierten deutschen Kinder. Hiltrud Otto:
"Dann sind Kinder schon im Morgenkreis überfordert, wenn diese Kinder gefragt werden, wo möchtest du dich denn hinsetzen."
Will man Kindern aus solchen an der Gemeinschaft orientierten Kulturen gerecht werden, so das Fazit der Wissenschaftler, muss man sie deshalb als Teil der Gruppe ansprechen und fördern. Und mehr Gemeinschaftssinn, davon sind Hiltrud Otto und Heidi Keller überzeugt, tut auch den deutschen Mittelschichtskindern gut.