Doktor Wasserfreund
Die deutsche Unesco-Kommission hat das Kneippen in das Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes aufgenommen. Erfunden hat die Wasseranwendung der Priester und Gesundheitsreformer Sebastian Kneipp, auch "Wasserdoktor" genannt.
Berlin, Stadtteil Neukölln: Ein schmaler Wasserlauf am Rand einer Wiese im Landschaftspark Britzer Garten. Um das hölzerne Gestell in seiner Mitte staksen Männer und Frauen im Storchengang. Bei jedem Schritt heben sie die Füße weit aus dem Wasser und tauchen sie dann langsam wieder ein. Sie nehmen an einem Gesundheitstraining teil, das Gymnastik, Bewegungsübungen aus dem chinesischen Qigong und Kneipp-Therapien verbindet. Zu diesem Training gehört auch das Wassertreten, eine Kneipp-Übung. Aber zur Kneipp-Therapie gehört nicht nur Wasser, wie Trainingsleiterin Christiane Groß erklärt:
"Wir machen erstmal das Allerwichtigste, was Kneipp auch immer durchs ganze Leben begleitet hat: Wir laufen hier barfußüber die Wiese; über diesen wunderbaren Tau. Das Tau-Laufen, die mildeste Kneippsche Anwendung, die den Organismus kräftigt, das Immunsystem stärkt, den Stoffwechsel anregt und die Durchblutung fördert."
An eine therapeutische Wirkung hat Sebastian Kneipp wohl nicht gedacht, als er als Kind barfußumherlief. Der später so berühmte "Wasserdoktor"kam am 17. Mai 1821 in Stephansried, einem Dorf im Allgäu, zur Welt. Er war einfach froh, wenn er dem Kellerloch entkommen konnte, in dem er seit seinem elften Lebensjahr als Sohn eines armen Webers am Webstuhl schuften musste. Er wollte raus an die Luft und raus aus diesem Leben. Studieren und Priester werden.
Sie nannten ihn "Doktor Wasserfreund"
Nach vielen vergeblichen Versuchen fand er mit 21 Jahren einen Pfarrer, der ihn auf das Gymnasium vorbereitete. Sechs Jahre darauf machte er Abitur. Dem Studium stand nun nichts mehr im Weg. Doch die viele Arbeit und die Anstrengung des Lernens hatten ihn geschwächt. Ein Lungenleiden, das er sich im Webkeller zugezogen hatte, plagte ihn. Er spuckte Blut, magerte ab, war schlaf- und antriebslos. Ein Arzt diagnostizierte Verhärtungen an beiden Lungenflügeln und fortschreitende Schwindsucht - ein Todesurteil in der damaligen Zeit. Aber es kam anders. Kneipp...
Gudrun Beckmann: "…hat die Kraft der Natur, des Wassers speziell, an sich beweisen können."
Die Vorsitzende des Berliner Kneipp-Vereins Gudrun Beckmann spielt auf Kneipps Selbstheilung an. Dem Todkranken war das Buch des schlesischen Arztes Johann Siegmund Hahn über die therapeutische Anwendung des Wassers in die Hände gefallen. Fortan machte er Wasserübungen – und wurde geheilt.
Die Mitstudenten nannten ihn bald "Doktor Wasserfreund" und "Eisbär". Zwei von ihnen kurierte er durch Wasseranwendungen. Als Pfarrer heilte er dann auf diese Weise Gebrechen aller Art. Manches Mal rettete er so Menschen vor dem sicheren Tod –zum Beispiel eine an Dauerblutungen leidende Mutter von neun Kindern und mehrere Cholerakranke. Aber sein Tun wurde nicht von allen geschätzt.
Gudrun Beckmann: "Er hat ja enorme Anfeindungen annehmen müssen aus der Ärzteschaft und er hat ja ganz oft vor dem Richter gestanden, wo er sich verantworten musste für seine Heilerfolge, wurde dann auch verurteilt und musste damals auch Geld bezahlen, das hat er ja alles durchstanden."
Therapie für arme Menschen
1854 wird Kneipp das erste Mal angezeigt, beim bischöflichen Ordinariat in Augsburg und beim Landgericht. Die Kirchenbehörde ermahnt ihn, das Wasserheilen zu unterlassen. Ein Apotheker und ein Arzt stecken dahinter. Immer wieder wird es ihm so gehen. Neben Neid und der Furcht, Einnahmen zu verlieren durch Konkurrenz, spielt dabei die Auseinandersetzung zwischen akademischer Medizin und Naturheilkunde eine Rolle. Aber es gibt auch Ärzte, die sich seiner Methode anschließen.
Sie helfen ihm, der vergeblich versucht, sich auf die Arbeit als Seelsorger zu konzentrieren, den Ansturm der Notleidenden zu bewältigen. Aus dem verschlafenen Dorf Wörishofen, wo er seit 1855 tätig ist, wird nach und nach ein Heilbad mit Wasserkuranstalten, Hotels und Pensionen, Poststelle, Bahnanschluss und Straßenbeleuchtung. Zunehmend kommen auch die Reichen und Berühmten, aus ganz Europa und von weiter her. Menschen, die er am Beginn seiner Heiltätigkeit nicht im Blick hatte. Denn:
Gudrun Beckmann: "Kneipp hat seine Therapieform gerade für die armen Menschen entwickelt."
Denen begegnete er vor allem als Seelsorger kleiner Bauern, die von den Ärzten aufgegeben waren oder nicht in der Lage, sie zu bezahlen. Um ihnen helfen zu können, verfeinerte er die Erkenntnisse seiner Vorgänger in der Wasserheilkunst und entwickelte ein ausgeklügeltes System individueller Anwendungen durch Güsse, Wickel und Bäder, mit kaltem und warmem Wasser, durch Taulaufen und Wassertreten.
"Fühle mich frei, schön und glücklich"
Unterstützend setzte er aus Kräutern zusammengestellte Medizin ein, gab Hinweise für gesunde Ernährung, Bewegung an frischer Luft und eine ausgewogene Lebensführung mit dem rechten Maß von Aktivität und Ruhe. Der Wasserdoktor wurde so zum Volksaufklärer, für den Heilkunst und Lebensführung unauflöslich zusammen gehörten. Es ging ihm vor allem darum, den "inneren Arzt", wie er die Selbstheilungskräfte nannte, zu stärken. Zu den Effekten seiner Anwendungen gehören eine durch Abhärtung errungene Kräftigung des Immunsystems, die Anregung des Stoffwechsels und eine verbesserte Durchblutung.
Das gilt nach wie vor, auch wenn die Kneipp-Kur heute weniger für das Kurieren einzelner Krankheiten als mehr zur Vorbeugung und als Begleittherapie zur Genesung eingesetzt wird. Dass sie erheblich zum Wohlbefinden beiträgt, bestätigt eine der Frauen, die im Britzer Garten am Gesundheitstraining teilnimmt.
"Wenn ich hier in dem kalten Wasser war und dann über die Wiese laufe, dann ist mir das so wie Fußbodenheizung. Ja und ich fühl mich richtig frei und schön und glücklich."