Kulturgedächtnis für die Ewigkeit

Moderation: Liane von Billerbeck · 22.07.2008
Im Untersuchungsstollen eines ehemaligen Silberbergwerkes, dem Barbarastollen in Oberried bei Freiburg im Breisgau, wird das kulturelle Gedächtnis der Nation eingelagert. Zahlreiche Handschriften, Verträge und Texte sind dort, auf Mikrofilmen gebannt, in Edelstahlbehältern sicher verpackt. Man könne damit im Falle einer Katastrophe in Ansätzen die Geschichte unseres Landes rekonstruieren, sagt der Oberarchivrat Martin Luchterhand. Das gesamte Kulturgut könne man jedoch nicht wieder sichtbar machen.
Liane von Billerbeck: Wenn Deutschland kein Land wäre, sondern ein Computer, würde man das, was im Barbara-Stollen passiert, ein Backup nennen, eine Sicherheitskopie. Das kulturelle Wissen der Nation wird seit 1975 in diesem Stollen in der Nähe Freiburgs gelagert: Baupläne, Handschriften, Gesetze und Verträge sind dort auf Mikrofilm gebannt und luftdicht in Edelstahlbehältern verpackt. 500 Jahre sollen sie halten. Darüber, wie und was genau gespeichert wird, entscheiden die Archivverwalter des Bundes und der Länder. ( ... )

Bei uns im Studio ist jetzt Oberarchivrat Martin Luchterhand, der für das Land Berlin darüber entscheidet, welches Archiv- und Kulturgut für die Ewigkeit aufgehoben wird. Herzlich willkommen!

Martin Luchterhand: Guten Tag!

Von Billerbeck: Wir haben ja gerade in dem Beitrag gehört, dass die Definition des zu archivierenden Kulturguts, na, sagen wir, etwas schwammig, also eher vage ist. "Repräsentativ in zeitlicher, regionaler und sachlicher Hinsicht" soll das sein. Wie entscheiden Sie das?

Luchterhand: Es gibt ein ganz gewichtiges Kriterium, das ist eigentlich Alter. Das heißt, das Ganze basiert ja ... diese Definition von Kulturgut ist natürlich, wenn Sie so wollen, einseitig, das basiert auf der Archivüberlieferung. Man hat sich entschieden, Archivalien zu verfilmen. Da fällt also alles raus, was nicht in Archiven liegt, was nicht auf Papier oder verfilmbaren Trägern ist. Darüber kann man sich ja schon auseinandersetzen. Und bei dem schriftlichen Kulturgut geht es erst mal danach, die älteste und für den jeweiligen Bereich wichtigste oder wichtige Überlieferung zu sichern.

Von Billerbeck: Das heißt, Sie hatten nie ein Problem, für oder gegen ein Dokument oder für oder gegen eine historische Person, die da archiviert wird, zu entscheiden?

Luchterhand: Nein, eigentlich nicht. Wir haben höchstens eine Reihenfolge, wenn wir sagen, etwas hat noch keine Priorität, dann haben wir Zeit, dann machen wir das vielleicht ein paar Jahre später. Und es gibt da ja auch Vorbedingungen, nicht alles ist sofort verfilmbar. Es muss in so einem Zustand sein, dass es sich technisch verfilmen lässt, es muss inhaltlich so aufbereitet sein, dass man die inhaltlichen Informationen auch mit auf den Film bekommt.

Von Billerbeck: Wir wollen es ja nicht hoffen, aber angenommen, Deutschland würde von einem unvorhergesehenen Meteoriten zerstört wären und dieser Stollen bliebe erhalten. Könnte man dann aus diesen Sicherheitskopien im Barbarastollen quasi das Kulturgut Deutschlands rekapitulieren?

Luchterhand: Man könnte in Ansätzen wieder vieles über unser Land und seine vor allen Dingen die ältere Geschichte rekonstruieren, aber man kann natürlich nicht das gesamte Kulturgut, was Deutschland besitzt, was es an Überlieferung gibt, dann nach einer solchen Katastrophe wieder sichtbar machen. Mit diesem Prozess hinken wir ja auch dem weit hinterher, was die Archive überhaupt übernehmen und verwahren. Das ist schon mal eine Selektion.

Von Billerbeck: Leiden Sie da manchmal drunter, wenn da so quasi historische Lücken bleiben müssen? Es ist ja doch immer nur ein Ausschnitt, der dort gespeichert wird.

Luchterhand: Geschichte sind Lücken. Es ist ja schon so, dass das, was in den Archiven liegt, schon so ein Schweizer Käse ist mit mehr Löchern als Käse, wenn man überlegt, was in Einzelfällen da war vor dem Kriege in den Behörden und an anderen Stellen und was durch Kriegsverluste, Auslagerung, Vandalismus alles zerstört ist. Und dann ist das, was wir jetzt sichern können, ja auch nur wieder ein Teil von dem, was im Moment vorhanden ist, also lebt man mit dieser Reduktion eigentlich beständig.

Von Billerbeck: Sie sind verantwortlich und entscheiden hier im Land Berlin darüber, was da an Dokumenten verfilmt wird. Was ist denn das älteste Papier, das aus dem Land Berlin in diesen Barbarastollen gewandert ist?

Luchterhand: Wir haben hier ein Amtsbuch aus dem 14. Jahrhundert mit Urkundenabschriften, Berlin hat da nicht so viel Altes zu bieten im Vergleich zu anderen Häusern.

Von Billerbeck: Berlin ist einfach nicht so alt.

Luchterhand: Nein, nicht deswegen, sondern weil die Überlieferung, die die Stadt Berlin - wir sind ja in der Wurzel ein Stadtarchiv - hat, nicht so viel alte Materialien enthält. Das sind die Kriegsverluste. Ich muss natürlich hinzufügen: Meine Aufgabe ist nicht nur, etwas auszuwählen, was aus unserem Hause kommt, sondern alles, was an Archivalien im Bereich des Landes Berlin liegt, ist Kandidat für diese Sicherung, und wir haben weit über das Landesarchiv hinaus verfilmt. Ein großer Posten sind zum Beispiel Kirchenbücher oder die Überlieferung der Akademie der Wissenschaften, deren älteste Teile.

Von Billerbeck: Wie man Deutschland speichert, das erklärt uns einer, der darüber entscheidet, was von den Sammlungen aus Berlin übrigbleibt. Martin Luchterhand von der Archivverwaltung des Landes Berlin ist bei uns zu Gast. Seit über 50 Jahren wird ja dieses Wissen im Barbarastollen auf Fotomaterial abgespeichert, aber Sie haben es schon in so einem Nebensatz erwähnt, es gibt ja auch schützenswerte Dinge und Dokumente, die gar nicht auf das Medium Film passen, nehmen wir mal an Tondokumente oder auch möglicherweise Software. Wie ist das denn mit solchen Dingen?

Luchterhand: In dem Konzept für den zentralen Bergungsort, wie der heißt, ist so etwas nicht vorgesehen. Es ist nicht möglich, digitale Materialien mit vertretbarem Aufwand dauerhaft zu bewahren, weil Sie die ständig mit Pflege der Hard- und Software, mit Umkopieren und Emulation, mit einem gewaltigen wirtschaftlichen Aufwand am Leben erhalten müssen. Und das ist für so einen Stollen, wo ich auch am Ende, wenn ich ihn öffne, nicht weiß, welches Gerät ich dann zur Verfügung habe, schlicht nicht durchführbar. Das ist ein sehr präsentes Medium - was ich digital habe, kann ich überall verfügbar machen -, aber es ist für uns Archivare ein Nutzungsmedium, es hat keinen dauerhaften Bestand. Und so muss man sagen, für die Ewigkeit muss ich einen Schritt zurück machen und muss das Elektronische eigentlich wieder verlassen.

Von Billerbeck: 500 Jahre sollen diese Mikrofilme halten, das werden wir nicht mehr überprüfen können. Aber warum hat man sich eigentlich für den Mikrofilm entschieden und nicht andere Materialien genommen? Ist das auch überlegt worden, Titanplatten oder Steine möglicherweise?

Luchterhand: Die Entscheidung ist ja älter und man hat da auf ein Verfahren aufgesetzt, was es im Grunde seit den 30er Jahren gibt. Mikrofilm ist erst mal durch die Erfahrung, die wir mit Fotografie haben, eine schöne stabile Mikroform, wenn er chemisch sauber entwickelt ist, dann ist er lange haltbar, er hat eine optisch sehr hohe Wiedergabequalität, da müssen Sie also hohe, hohe Dichten einscannen, wenn Sie so was elektronisch erreichen wollen, und der ist stabil. Ich kann einen Mikrofilm in einem dunklen Raum Jahrzehnte liegen lassen, wenn er nicht gerade völlig heiß ist, der Raum. Machen Sie das mal mit einer CD und holen Sie die mal nach zehn Jahren wieder raus und wollen wissen, was da drauf ist.

Von Billerbeck: Das wird nicht so gut sein dann, vermutlich, was wir da finden.

Luchterhand: Ja.

Von Billerbeck: Ich habe es vorhin schon ... da haben Sie das erwähnt, dass Sie die digitalen Medien als Archivar für Nutzungsmedien halten. Frage an Sie: Hat die Menschheit durch den Sieg der Computer über die analogen Technologien so ein bisschen das Verhältnis zur Längerfristigkeit, also zur Zeit, verloren?

Luchterhand: Das schon, indem man denkt, Computer sind einfach das Medium, weil es so schnell verfügbar ist, ist es auch das, was dauerhaft sein muss, aber der Punkt ist eigentlich nicht die Technik, sondern der Punkt ist der Wille, den wir haben, was zu erhalten. Und wenn es dann auf Kosten stößt, dann überlegt man sich das.

Ich denke an die vielen Eltern, die dann elektronische Bilder ihrer Kinder haben, und wenn die den übernächsten oder den nächsten Computer kaufen, plötzlich 5000 Babybilder da haben, und dann gibt es vielleicht einen Dienstleister, der Ihnen für zwei, drei Cent pro Stück die Dinger umspielt. Dann überlegen die sich, ob die die 5000 Kinderbilder noch haben wollen. Und so setzt man auf ein Medium, was eben nur mit großem Aufwand dauerhaft ist. Und dass man auch ein bisschen verzichten muss, dass man nicht jede Form dauerhaft erhalten kann ... Ich kann frisches Obst nicht einfach unbegrenzt essen, wenn ich es einwickele, hält es länger, aber dann ändert es sich, dann muss ich mir Mühe machen, das musste man sich immer schon.

Von Billerbeck: Welches Verhältnis haben Sie eigentlich persönlich zur digitalen Speicherung? Fotografieren Sie digital?

Luchterhand: Nein, ich fotografiere analog, weil das ja nun für längerfristig ist. Aber ansonsten bin ich ganz normaler PC-Nutzer und finde das sehr angenehm, wenn ich irgendwohin schnell was transportieren kann, aber ich überlege mir eben, wenn es länger halten soll, was ich damit anstelle.

Von Billerbeck: Und Sie wählen dann quasi auch aus, das ist ja ...

Luchterhand: Ja, das muss man. Zum digitalen Fotografieren zum Beispiel gehört ganz massives Auswählen dazu, dass man die Menge in den Griff kriegt.

Von Billerbeck: Sie sind Archivar und müssen sich jetzt ja darum kümmern, dass die alten Dokumente gesichert werden in diesem Barbarastollen, aber wenn Sie jetzt, sagen wir mal, eine Person der Gegenwart nehmen würden: Wer wäre für Sie aufhebenswert? Wen würden Sie speichern und dessen Taten?

Luchterhand: Das Schwierige ist ja, dass ich die Person ja nicht als solche speichern kann. Die Person selber muss schriftlich dokumentiert sein, sie muss was niedergelegt haben. Da sind manche schon arg im Nachteil, ich kann mir keinen Bühnenkünstler aussuchen, ich kann niemand aus dem Medienbereich nehmen, wenn er nicht gerade der schreibenden Zunft angehört, also haben wir schon ein sehr eingeschränktes Fenster. Und dann muss ich sagen: Wenn er prominent ist, dann habe ich es leichter, dann komme ich an die Äußerung von ihm auch viel mehr dran. Das ist so ein bisschen die Bestätigung von dem Satz: Wer schreibt, der bleibt.
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