Kulturgeschichte der Chimären

Die uralte Faszination für die Verschmelzung von Mensch und Tier

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Szene aus dem Wandteppich "Zyklus der Apokalypse". Abgebildet sind Chimären.
Auch auf dem berühmten Wandteppich Zyklus der Apokalypse von Angers sind Chimären zu sehen. © imago / Arcaid Images, Paul M.R. Maeyaert
Thomas Macho im Gespräch mit Axel Rahmlow |
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Schon die Höhlenzeichnungen der Altsteinzeit zeigten Mischwesen aus Mensch und Tier, sagt der Kulturwissenschaftler Thomas Macho. Die Faszination für Chimären zieht sich durch die Geschichte, bis in die allerjüngste Zeit.
Axel Rahmlow: Ein Wissenschaftsteam pflanzt menschliche Zellen in die Embryos von Affen ein. Drei von 130 Embryos überleben das, bis das Team das Experiment schließlich abbricht. Das ist das erste Mal, dass es gelungen ist, so ein Mischwesen im Reagenzglas zu züchten, und es war mit Sicherheit die Wissenschaftsnachricht dieser Woche. Denn es ist ein Durchbruch in der Chimären-Forschung, also der Forschung über Mischwesen. Die sollen helfen, Organe für Menschen zu züchten. Aber das wirft natürlich viele ethische Fragen auf – und auch einige Horrorbilder.
Der Mensch war allerdings schon immer von seinem Verhältnis mit Tieren fasziniert, die Kunst bezeugt das, die Kultur bezeugt das. Und Thomas Macho kann das auch bezeugen, er ist der Direktor des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften in Wien. Wie weit geht diese Idee des Mischwesens, diese Verschmelzung von Mensch und Tier eigentlich kulturgeschichtlich schon zurück?
Thomas Macho: Sehr weit. Wir können schon auf den Zeichnungen, Kritzeleien auf paläolithischen Höhlenwänden solche Mischwesen entdecken, Kombinationen zwischen Mensch und Vogel zum Beispiel. Und alles, was wir an schriftlichen Mythen kennen, kreist immer wieder um die Chimären, um solche Mischwesen zwischen Tier, Mensch und Gott.
Man muss vielleicht nur ein paar Kapitel aus dem berühmten Buch über die Metamorphosen von Ovid lesen, um zu sehen, wie stark diese Faszination dann auch mit Einflüssen auf die Kunstgeschichte bis in die Gegenwart hinein, in die Filmgeschichte und so weiter gewirkt hat. Die Vorstellung, dass Menschen sich in Tiere verwandeln, oder auch, dass Götter sich in Tiere verwandeln, ist tatsächlich sehr alt.

Pflanze, Tier, Mensch als "Kette des Seienden"

Rahmlow: Und wann hat das angefangen, dass wir dann einen gewissen Trennungseffekt gesehen haben?
Macho: Das hat erst relativ spät angefangen, im Zusammenhang mit der Diskussion darüber, wie sich Tiere vom Menschen unterscheiden und inwiefern der Mensch eine besonders hervorgehobene Stellung hat. Das passiert erst sehr spät. Selbst wenn man so ein Buch wie Pico della Mirandolas (1463-1494) Analysen der Würde des Menschen liest, sieht man, dass hier eigentlich immer noch von einer Kette des Seienden aus gedacht wird, die von den Pflanzen zu den Tieren, von den Tieren zu den Menschen, von den Menschen zu den Engeln und eben danach dann zum lieben Gott reicht.
Die interessante Idee daran ist, dass diese Einordnung nicht zu 100 Prozent verlässlich bleibt, sondern man eben auch relativ leicht, angenommen man ist ein Mensch, wieder zum Tier werden kann. Da sind die Übergänge noch sehr fließend. Da sind wir aber schon mitten im Renaissance-Humanismus.

Der Versuch, Tiere für menschliche Zwecke zu nutzen

Rahmlow: Jetzt haben wir momentan diese Diskussion um Mischwesen gerade, wenn wir auf neuere Wissenschaft schauen. Die versucht zum Beispiel in der Medikamentenforschung oder auch in der Forschung, um gezüchtete Organe mehr Wissen zu generieren. Ist das im Endeffekt die Konsequenz von Tieren als Nutzmittel für die Menschen oder ist es die Konsequenz dieser Sehnsucht nach einer Verschmelzung mit dem Tier?
Macho: Zunächst ist es sicher der Versuch, Tiere wie so oft für menschliche Zwecke zu nutzen. Die Sehnsucht, die Faszination spielt eher im Hintergrund eine Rolle. Pragmatisch geht es natürlich um die Erforschung von Medikamenten und die Idee, Transplantationsmedizin zu erleichtern. Aber wie gesagt, die Faszination bleibt immer da und taucht dann auch regelmäßig immer wieder auf.
Ich denke zum Beispiel an eine Folge der bekannten Arztserie "Dr. House", in der ausgerechnet ein Mafiakiller, der an einer schweren und nicht leicht zu behandelnden Lebererkrankung leidet, dann mit einem Schwein kombiniert wird. Das heißt, man sieht dann in dieser Folge, wie der Mafiakiller auf der einen Seite liegt, im Nebenbett liegt das betäubte und sedierte Schwein. Und dann sieht man, wie eben sein Blut über die Leber des Schweins gereinigt wird.
Das ist natürlich eine Faszination, die nicht nur in solchen Fernsehserien vorkommen mag, sondern die auch in der Literatur und im Filmen ausprobiert wird – manchmal ernst gemeinter, manchmal boulevardesker. Und diese Faszination kann man nicht ganz ausblenden, sie bleibt im Hintergrund aktiv, auch wenn vordergründig natürlich die Idee, zum Beispiel in Therapie und Medikamentenforschung Erfolge zu erzielen, dominant zu sein scheint.

Griechische Götter verwandelten sich gern in Tiere

Rahmlow: Das heißt, diese Faszination geht mit der Horrorvorstellung des Mischwesens tatsächlich einher? Das bedingt sich gegenseitig?
Macho: Vielleicht ist bedingt zu stark gesagt, aber das lässt sich nicht ausblenden, das ist immer da. Und es sind – darauf muss man auch hinweisen – natürlich nicht immer Horrorvorstellungen, sondern es sind auch Vorstellungen von Grandiosität. Nicht umsonst verwandeln sich eben auch die griechischen Götter immer wieder mal in Tiere, um Menschentöchter verführen zu können und dergleichen.
Es ist schon merkwürdig, dass Zeus, wenn er auf eines seiner vielen erotischen Abenteuer aus ist, sich eben nicht strahlend als großer Held zeigt, sondern eben mal als Schwan, mal als Stier und nur ganz ausnahmsweise, in der Geschichte von Amphitryon, zeigt er sich als der Ehemann. Das hat Mythografen Jahrhunderte später noch zu der Frage gebracht, wieso der liebe Gott sich in diesem Fall dann ausgerechnet als Ehemann verkleidet, denn das sei ja nicht besonders originell für die Frau.
Und von daher gesehen kann man sagen, diese Fantasie vom Mischwesen ist keineswegs nur eine Horrorvorstellung, sondern es ist eben auch eine Fantasie von Großartigkeit, von Einzigartigkeit. Das spiegelt sich auch in seltsamen Männerbünden wider, die Berserker oder das, was vor dem Hintergrund der Werwolfs-Geschichten steht: Die Idee, dass man sich vorübergehend jedenfalls in Wölfe verwandeln kann, wild leben kann. Diese Faszination, die bleibt vital und ist immer noch gut greifbar.

Mit Affenviren zum Covid-Impfstoff

Rahmlow: Wie ist das konkret bei den Affen? Es wird ja oft gesagt, dass die uns als Menschen am ähnlichsten sind - auch, weil einige Affenarten von ihrem ganzen Habitus her tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit zum Menschen haben.
Macho: Da ist eine ganz einfache Antwort möglich. Ich habe gerade vor etwas mehr als einer Woche meine erste Impfdosis mit AstraZeneca erhalten. Und als ich mit einer Kollegin in Wien gesprochen habe, ich wollte wissen, ob die auch Nebenwirkungen hatte und so. Da sagte sie, na ja, ich habe eine ganze Woche den Schimpansen-Schnupfen gehabt. Und dann habe ich gedacht, okay, das ist ein lustiger Terminus, und habe noch mal recherchiert. Und tatsächlich ist dieser Versuch, eben mit diesem Vektorimpfstoff sich gegen COVID-19-Erkrankungen ein Stück weit zu schützen oder zu immunisieren, mithilfe solcher, wenn man so will, Affenviren bewerkstelligt worden.
Wie gesagt – das ist ein altes Thema, die Geschichten von Affenmenschen haben das späte 19. Jahrhundert noch, etwa in den damals üblichen Freakshows, immer wieder fasziniert und begeistert. Das heißt, auch das ist alt.

Affenwesen aus dem Labor

Und vielleicht an dieser Stelle nur kurz eine Erinnerung, die für mich tatsächlich ein Horrorbild darstellt, es ist nicht lange nach der Wende zum 20. Jahrhundert ein niederländischer Evolutionsbiologe namens Herman Moens gewesen, der regulär einen Forschungsantrag gestellt hat, man möge doch jetzt Afrikanerinnen auswählen und die wiederum mit Affensperma besamen, um dann solche missing links, solche Affenwesen erzeugen zu können und studieren zu können.
Wissen Sie, wer das befürwortet hat das Projekt? Unter anderem Ernst Haeckel, der fand das cool, dass man jetzt auch versucht, sozusagen die Evolution empirisch noch mal genauer nachzuzeichnen und nach jenen fehlenden Zwischengliedern in der Evolution des Menschen zu suchen, die ihn mit dem Affen verbinden. Das ist für mich noch weit eher ein Horrorbild als die Vorstellung, dass man jetzt halt im Reagenzglas eine Zellverbindung hat, mit der man experimentieren kann – ein Experiment, das aber eben auch abgebrochen wurde.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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