Der Anker auf Sissis Schulter
Eine Hamburger Ausstellung widmet sich der Kulturgeschichte der Tätowierung. Sie waren um 1900 bei Adeligen sehr beliebt. Heute wollen viele Menschen mit Tattoos einen Bezug zu ihrer Biographie herstellen.
Ihre Blicke wirken stumpfsinnig, von ihren Lippen träufelt Blut, in den Händen halten sie martialische Schneidewerkzeuge, und ihre Körper sind übersät mit Yakuza-Tätowierungen. Die fast lebensgroßen Figuren „Pablo & Ruth“ des spanischen Künstlers Enrique Marty eröffnen die Ausstellung. Eine alptraumhafte Groteske. Protest und Parodie. Schräge Persiflage.
Was also hat es auf sich mit Tätowierungen? Kurator Dennis Conrad:
"Wenn wir jetzt ein bisschen in die jüngere Vergangenheit gucken, hat das immer auch mit sozialen Gruppen zu tun, mit Abgrenzen von der übrigen Gesellschaft. Und so zieht sich das durch die Epochen durch: Dass man eben in diesem Kontext von Spiritualität, von sozialer Hierarchie und natürlich auch die schmückenden Aspekte, ... da ganz verschiedene Facetten aufmachen kann.
Fragen nach Erinnerung, Tod und Vergessen
So versammelt die Ausstellung historische Fotos und Filme, die Einblicke geben in frühe Tattoo-Studios. Sie zeigt aktuelle Videos und Interviews mit Tätowierten, zeitgenössische Kunstwerke, die das Thema aufgreifen, um mit ihm Fragen nach Erinnerung, Tod und Vergessen zu stellen. Und in einer langen Vitrine liegen zahlreiche Tätowier-Werkzeuge aus: elektrische Nadeln, Knochen und - lange Akaziendornen.
"Also, die früheste Tätowierung, die man meines Wissens kennt, ist tatsächlich von dem Ötzi. Der Ötzi ist tätowiert. Demnach liegt das schon ein paar Tausend Jährchen zurück. Man weiß aber natürlich, dass es in den unterschiedlichsten Kulturen in den unterschiedlichsten Epochen immer Tätowierungen gegeben hat."
"Also, die früheste Tätowierung, die man meines Wissens kennt, ist tatsächlich von dem Ötzi. Der Ötzi ist tätowiert. Demnach liegt das schon ein paar Tausend Jährchen zurück. Man weiß aber natürlich, dass es in den unterschiedlichsten Kulturen in den unterschiedlichsten Epochen immer Tätowierungen gegeben hat."
Kriminellen-Gangs in El Salvador
Anschaulich führt das umfangreiche Material die vielfältigen gesellschaftlichen und sozialen Funktionen der Tätowierung vor. Eine Fotoserie zeigt zum Beispiel junge Thailänderinnen und Thailänder, die ihre Oberkörper mit feinen sakralen Ornamenten tätowieren lassen, um sich so vor Unfällen und Verbrechen zu schützen.
Eine andere blickt auf Kriminellen-Gangs in El Salvador: In einer nach dem Bürgerkrieg verarmten und brutalisierten Gesellschaft nutzen die Gangs Tattoos als Geheimcodes, die von ihren Taten erzählen: Jede Träne ein Ermordeter.
Und die Gesichtsbemalungen der Maori, die nach langer Unterdrückung durch die Regierung gerade eine Renaissance feiern, sind gezeichnete Stammbäume.
Tätowierungen gab und gibt es quer durch alle sozialen Klassen: Hafenarbeiter und Seeleute etwa ließen sich einst mit Vorliebe Piratenflaggen und Anker tätowieren - und ...
"Sissi beispielsweise hatte einen Anker auf der Schulter tätowiert, was ihre Freiheit, ihre Reiselust symbolisieren sollte. Man sieht eben da, dass man das auch machen möchte, dass man das nachmachen möchte. "
So Kurator Dennis Conrad.
Exotisch und schick bei den Blaublütigen
Um 1800 hatte der europäische Adel auf Zeichnungen von Südseereisenden erstmals tätowierte Menschen gesehen. Knapp hundert Jahre später galten den Blaublütigen Tattoos als exotisch und schick: kaum einer, der nicht irgendwo eins hatte.
"Man hat es aber eben nicht zur Schau getragen. Das ist ganz wichtig. Das unterscheidet das sehr von dem, was wir heute kennen, das die role models, die wir heute kennen -, Schauspieler, Hochleistungssportler -, da sich eben ganz anders selbst darstellen mit Tätowierungen. Was sicherlich auch in der Gegenwart dazu führt, dass Menschen sich dadurch animiert fühlen, dem nachzueifern."
So umfassend die Ausstellung ansonsten die vielfältigen gesellschaftlichen Funktionen des Mediums Tätowierung aufzeigt - ausgerechnet ein kritischer Blick auf den aktuellen Trend des Tattoos als Modeaccessoires fehlt. Stattdessen sieht man auf einer großen Video-Leinwand Menschen, die sich von Künstlern am ganzen Körper tätowieren ließen. Denn, so Dennis Conrad:
"Was man eigentlich beobachten kann, ist doch, dass es in einem weit größeren Feld eine sehr intensive Auseinandersetzung damit gibt, warum man sich tätowieren lässt, mit welchen Motiven. Also es gibt ganz oft den Bezug zur eigenen Biografie, dass man sich einschneidende Erlebnisse in der eigenen Vergangenheit einschreiben will auf den eigenen Körper, im Sinne einer Erinnerungskultur."
Eine Videoarbeit mit Interviews dokumentiert einige persönliche Gründe, die Menschen dazu veranlasste, sich unwiderruflich große Schlangen oder Tiger, Totenschädel oder blühende Orchideen, Jugendstilornamente oder Namen in die Haut ritzen zu lassen. Über mögliche gesellschaftliche Gründe dieser noch jungen Entwicklung erfährt man leider nichts.
Doch wenn man am Ende der Ausstellung wieder vor Enrique Martys volltätowierten Figuren steht, die mit allen Mitteln des Trash um Aufmerksamkeit heischen, ahnt man, worum es beim Tätowieren in einer Gesellschaft der Vereinzelung und Isolation auch gehen könnte.
Die Ausstellung "Tattoo" ist bis zum 6. September 2015 im Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg zu sehen.