Kulturgeschichte

Europäer sind Migranten nicht weit voraus

Frauen und Männer aus Afghanistan und Pakistan warten in einer Flüchtlingsunterkunft in Limburg an der Lahn auf den Beginn der Essensausgabe.
Flüchtlingen werden Einstellungen vorgeworfen, die vor 50 Jahren in Deutschland noch als völlig normal galten, meint Markus Reiter. © dpa / picture alliance / Boris Roessler
Von Markus Reiter · 24.02.2016
Es sei nur Jahrzehnte her, dass sich Deutsche religiös und gesellschaftspolitisch neu orientierten. Deshalb seien ihnen die Einstellungen von Migranten kulturell nicht so fremd, wie es Kritiker der Flüchtlingspolitik behaupten, gibt der Stuttgarter Publizist Markus Reiter zu bedenken.
Kürzlich war ich im Bonner Haus der Geschichte. Und habe eine Ausstellung über die Entwicklung von Geschlechterbildern und Sexualmoral seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland besucht.
Gleich zu Beginn ist ein Werbefilm aus den 1950er Jahren zu sehen. Eine adrette Hausfrau gerät schier aus dem Häuschen, als ihr Ehemann sie für ihren Schokoladenpudding lobt. Frauen, so klang es aus dem "off", stellten sich im Leben nur zwei Fragen: Was soll ich anziehen? Und was soll ich kochen?
Dieser Plot entsprach damals weitverbreiteten Vorstellungen von der Rolle der Frau in der Gesellschaft. Bis 1958 durfte der Mann in Westdeutschland über Ehefrau und Kinder bestimmen. Bis 1962 durften Frauen ohne die Einwilligung ihres Mannes kein Bankkonto eröffnen.

Saudi-Arabien hängt Deutschland nur 40 Jahre hinterher

Der Bundesgerichtshof verbot ihnen 1966, beim ehelichen Beischlaf Widerwillen zu zeigen. Bis 1977 konnten sie ohne Erlaubnis ihres Mannes keinen Beruf ausüben. Kurzum: Saudi-Arabien hinkt uns in diesem Punkt gerade einmal 40 Jahre hinterher. Nicht mehr als einen Wimpernschlag der Geschichte.
Der Vatikan brauchte bis tief ins 20. Jahrhundert, um sich mit der Idee der Menschenrechte und der Demokratie auszusöhnen. Erst das Zweite Vatikanische Konzil gestand den Katholiken Religions- und Gewissensfreiheit zu – und damit das Recht, von ihrem Glauben abzufallen.
Wer die Enzykliken aus dem 19. Jahrhundert liest, fühlt sich stark an islamische Fatwas der Gegenwart erinnert. Selbst die Ideale der Französischen Revolution von 1789, die wir heute zu Recht verteidigen, benötigten, um sich durchzusetzen, fast 200 Jahre. Es waren Jahre gesellschaftlichen Kampfes, eine Zeit des Terreur im Wechsel mit Restauration in fünf Republiken und zwei Kaiserreichen.
Ob wir Frauenrechte oder Sexualität, Kindererziehung oder Homosexualität als Beispiele nehmen, Flüchtlingen und Migranten werden Einstellungen vorgeworfen, die vor fünfzig Jahren in Deutschland noch als völlig normal galten. Und das Gesellschaftsbild, für das heute viele Teile der islamischen Welt kritisiert werden, beherrschte vor 150 Jahren auch Europa.

Wertewandel ist innerhalb eines Menschenlebens möglich

Diese Feststellung sollte nicht entmutigen. Im Gegenteil: Sie macht Hoffnung. Ein Wertewandel ist möglich, sogar innerhalb eines Menschenlebens. Dadurch werden Aussagen als Unsinn entlarvt wie: "Islam und Demokratie sind auf immer und ewig unvereinbar", "Die arabische Welt ist für alle Zeit unfähig zur Demokratie" oder "Arabische Männer werden sich niemals in eine westlich-individualistische Gesellschaft einfinden".
Die westliche Geschichte zeigt, dass sich Freiheit, Emanzipation des Einzelnen und Gleichberechtigung der Geschlechter am Ende durchsetzen. Um keinen Zweifel aufkommen zu lassen: Ich plädiere nicht dafür, mit Rücksicht auf Migranten gesellschaftliche Rückschritte in Kauf zu nehmen oder die Zeit zurückzudrehen.
Das setzt allerdings zwei Dinge voraus: Erstens müssen wir uns selbst unserer Werte sicher sein. Ein reaktionäres Frauenbild, Homophobie und Sexualfeindlichkeit sind schließlich auch hierzulande unter Erzkonservativen, Evangelikalen und strengen Katholiken verbreitet. Zweitens muss unsere Gesellschaft für ihre Werte werben, sie verteidigen und sie durchsetzen – notfalls mit Sanktionen.
Vieles spricht dafür, dass die Neu-Zugewanderten der Faszination individueller Freiheit erliegen werden. Und zwar gleichermaßen ihren Vorzügen wie den Ängsten, die sie auslöst. Ihnen wird es dabei nicht anders ergehen als uns.

Markus Reiter arbeitet als Schreibtrainer, Journalist und Publizist. Er studierte Politikwissenschaft, Volkswirtschaftslehre und Geschichte an den Universitäten Bamberg, Edinburgh und FU Berlin. Unter anderem war er Feuilletonredakteur der "FAZ" und schreibt Bücher über Kultur, Sprache und Kommunikation. Mehr unter www.klardeutsch.de

© die arge lola
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