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Eine Kulturgeschichte der Haare
29:49 Minuten
Erotisches Lockmittel, Gruppenzugehörigkeit oder Ausdruck einer politischen Haltung: Wie man sein Haar trägt, ist mehr als eine Frage der Mode. Schon in der Antike waren mit Haaren soziale und kulturelle Zuschreibungen verbunden. Und das gilt bis heute.
Der Mensch ist ein behaartes Lebewesen. Den Großteil der besonderen Schutzschicht zur Wärmeregulierung hat er im Laufe der Evolution zwar verloren, aber jeder besitzt immer noch etwa fünf Millionen dieser Hornfäden überall am Körper. Sie markieren die Grenze zwischen Natur und Kultur:
„Der behaarte Körper wurde immer wieder in die Nähe des Tierischen gerückt, also auch des Unzivilisierten. Der enthaarte Körper gilt ja heute als Ideal, gerade auch für Frauen, und wer seinen Körper nicht enthaart, gilt als ungepflegt, als unzivilisiert, quasi animalisch“, sagt Alexandra Karentzos, Professorin für Mode und Ästhetik an der TU Darmstadt, und nimmt dabei die Kulturgeschichte der Haare in den Blick – die vor allem eine „Kopfsache“ ist:
„Haare sind ein ganz wichtiges Mittel der Selbstgestaltung. Man kann mit ihnen Gruppenzugehörigkeiten oder auch Protest signalisieren. Sie gehören zum Körper, aber unterliegen zugleich sozialen Zuschreibungen und Abgrenzungen, und durch Haarfarbe etwa, Textur oder Styling werden gesellschaftliche Unterscheidungen auch von Geschlecht, Alter, Schicht, Ethnizität markiert.“
In der Bibel sind Männerhaare Symbol der Stärke
"Lehrt euch nicht selbst die Natur, dass wenn ein Mann langes Haar hat, es eine Schande für ihn ist, aber der Frau eine Ehre, so sie langes Haar hat?" So steht es schon im Paulusbrief an die Korinther, in der Bibel. Aber da finden sich auch andere haarige Geschichten:
„Lange Männerhaare sind ein Symbol der Stärke, der männlichen Kraft“, sagt Karentzos. „In dieser biblischen Geschichte von Simson wird das besonders deutlich: Er verliert seine Kraft, als Delila ihm die Locken abschneidet.“
„Lange Männerhaare sind ein Symbol der Stärke, der männlichen Kraft“, sagt Karentzos. „In dieser biblischen Geschichte von Simson wird das besonders deutlich: Er verliert seine Kraft, als Delila ihm die Locken abschneidet.“
Seit der griechisch-römischen Antike gehört die Formel „Männer kurz – Frauen lang“ zur abendländischen Kultur. Vor allem die langen wilden Mähnen der Germanen und ihre Bärte haben dafür gesorgt, dass diese Haartracht bei Männern als „barbarisch“, unzivilisiert, galt.
Frauen dagegen mussten lange Haare tragen, als Zeichen ihrer Weiblichkeit. Allerdings durften sie sie nicht offen zeigen – genau wegen dieser Weiblichkeit, die in vielen Religionen gleichgesetzt wurde mit ungezügelter Sexualität.
„Frauenhaare wurden ja sehr häufig diszipliniert, also indem sie eben geflochten wurden, indem sie hochgesteckt oder bedeckt wurden“, so Alexandra Karentzos. „Das Zeichen der Ehefrau war das bedeckte Haar. Man kam ja im wörtlichen Sinne unter die Haube.“
Haare als erotisches Lockmittel
Vor allem nach der islamischen Lehre sollen Frauen bis heute ihre Haare vor den Blicken anderer Männer unter Tüchern und Schleiern verbergen. Im orthodoxen Judentum bedecken Verheiratete sie mit einem Tuch oder einer Art Baskenmütze, mit einem Haarnetz oder, auch wenn das etwas paradox anmutet, mit einer Perücke, jiddisch: „Scheitel“.
Haare sind ein natürliches erotisches Lockmittel: sich in die Haare greifen, auch Elvis hat das unzählige Male auf der Bühne gemacht, sie schütteln, nach hinten werfen, sie öffnen...
„Schönes langes Haar hat halt Sexappeal und dann vielleicht auch noch blond, das sind so Klassiker“, sagt die Friseurin Claire Lachky vom Salon „Vokuhila“ in Berlin. „Ich glaube, die halten sich, ein blondes Haar macht auch jünger.“
„Schönes langes Haar hat halt Sexappeal und dann vielleicht auch noch blond, das sind so Klassiker“, sagt die Friseurin Claire Lachky vom Salon „Vokuhila“ in Berlin. „Ich glaube, die halten sich, ein blondes Haar macht auch jünger.“
Die Kulturwissenschaftlerin Alexandra Karentzos gibt zu bedenken, dass an Haarfarben auch Diskriminierungen festgemacht würden:
„Man kann an den Haarfarben auch sehen, wie Diskriminierungen stattfinden. Die dumme Blondine ist ja auch so ein Stereotyp, die mit dieser Sexualisierung ja auch einhergeht, quasi die Reduktion auf den Körper. Da kommen natürlich lange tradierte Stereotype zum Ausdruck.“
Umso mehr, wenn die Farbe selten ist: „Die roten Haare wurden ja sehr stark mit dem Teufel assoziiert, also im christlichen Kontext: das Höllenfeuer, das sichtbar wird auf dem Kopf der Person. Und die wurden dann ja tatsächlich auch auf dem Scheiterhaufen verbrannt.“
In den 1920er-Jahren haben sich Frauen gegen die haarigen Geschlechts- und damit Rollenzuschreibungen gewehrt: mit einer Frisur im „Garçon-Stil“, dem „Bubikopf“. Helga Lüdtke hat 2021 ein Buch dazu geschrieben. In einem Deutschlandfunk-Kultur-Gespräch erzählt sie vom weiblichen Eigensinn hinter und vom männlichen Blick auf diesen Kurzhaarschnitt:
„Es gab Frauen, die sich untereinander die Haare geschnitten haben – die Nachbarin, die Mutter, die Schwester, die Freundin, und manche haben auch selbst zur Schere gegriffen. Er war preiswert und er war modern. Und Frauen hatten nach dem Ersten Weltkrieg dieses unglaubliche Bedürfnis, in der Öffentlichkeit gesehen zu werden und eine moderne Form des Lebens zu finden. Es war ein Rütteln an den Machtstrukturen, an der männlichen Definitionsmacht, wie Frauen zu sehen sind.“
Deswegen gab es auch viel Widerstand auf breiter Ebene: „Den Frauen wurde Selbstverstümmelung vorgeworfen, die Kirche hat den ‚Bubikopf‘ als gottlos angeprangert, die Nationalsozialisten haben ihn als ‚undeutsch‘ eingeordnet, die nationalen Turnverbände haben mit dem Slogan ‚Arisch ist der Zopf – Jüdisch ist der Bubikopf‘ operiert und Frauen ausgeschlossen.“
Kahlschlag auf dem Kopf durch Syphilis
Männerhaare fanden jahrhundertelang kaum Beachtung, aber in der frühen Neuzeit ging man plötzlich „in die Vollen“: Weil viele neben dem natürlichen Haarverlust im Alter vor allem einen Kahlschlag durch die Syphilis und deren Therapie mit Quecksilber erlebten, griffen sie zur Perücke.
„Gutes Beispiel ist Ludwig XIV. mit seiner langhaarigen Lockenperücke“, sagt Alexandra Karentzos. „Er selbst litt wohl unter schütterem Haar, durch die Perücke wurde aber seine Haarpracht in den Vordergrund gerückt. Hier zeigt sich, wie über die langen Haare diese Macht inszeniert wurde.“
Die bis weit auf die Schultern reichende “Allongeperücke“ erinnert nicht zufällig an eine Löwenmähne. Sie wurde zur „Staatsperücke“ erklärt, ein offizielles Herrschaftszeichen. 40 Perückenmacher sollen zur Zeit des Sonnenkönigs in Versailles beschäftigt gewesen sein.
Im 17. und 18. Jahrhundert trug der Adel in Frankreich und bald in ganz Europa unterschiedlich lange, teils kunstvoll geflochtene Perücken als Standessymbol. „Zöpfe ab!“ war deshalb eine der Parolen der Französischen Revolution. Natürliche Haartracht galt als Zierde des Bürgertums. Aber die Perücke kam bald zurück – nun als Kennzeichen verschiedener Berufsstände und Institutionen:
„Etwa bei Richtern“, sagt Karentzos. „Es ist ja in England bis heute noch so, dass vor Gericht Perücken getragen werden. Das sind ja auch diese weiß gepuderten Perücken, und es ist ganz interessant, dass hier das graue Haar für die Autorität der Person steht.“
„Etwa bei Richtern“, sagt Karentzos. „Es ist ja in England bis heute noch so, dass vor Gericht Perücken getragen werden. Das sind ja auch diese weiß gepuderten Perücken, und es ist ganz interessant, dass hier das graue Haar für die Autorität der Person steht.“
Kahlscheren als Akt der Demütigung
Auch eine Machtdemonstration, freilich ganz anderer Art, ist das Kahlscheren. Ute Frevert, Professorin und Direktorin des Forschungsbereichs „Geschichte der Gefühle“ am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, hat 2017 in ihrem Buch zur Praxis der Demütigung in Europa auch diesen Teil der Haar-Historie untersucht:
„Haare als Teil des Körpers, und sich daran zu vergreifen, setzt einfach die Ohnmacht dieser Person ins Bild“, sagt sie. „Jemand werden die Haare kurz geschnitten als Signal, dass man nicht mehr zählt und dass man auch nicht mehr über seinen eigenen Körper bestimmen kann.“
„Haare als Teil des Körpers, und sich daran zu vergreifen, setzt einfach die Ohnmacht dieser Person ins Bild“, sagt sie. „Jemand werden die Haare kurz geschnitten als Signal, dass man nicht mehr zählt und dass man auch nicht mehr über seinen eigenen Körper bestimmen kann.“
Das eindrücklichste Beispiel sind die kahlgeschorenen KZ-Häftlinge. Aber auch schon in der Antike wurde den Sklaven ihr Haar als Zeichen ihrer Freiheit und Individualität genommen. Seit dem Mittelalter war das Scheren von Gefangenen oder Geächteten ein zusätzliches, sichtbares Zeichen der Bestrafung – der Ausschluss aus der Gemeinschaft als besondere Form der Demütigung:
„Man kann das analogisieren mit diesen Beschämungspraktiken, die wir schon in der frühen Neuzeit gut dokumentiert finden, in kleineren Ortschaften, in denen sich die Dorfgemeinschaft Leute vorgenommen hat, die sich aus ihrer Sicht gegen die Regeln verhalten haben. Das konnten Frauen sein, die gerade verwitwet waren und das Trauerjahr nicht eingehalten haben, das konnten aber auch alte Männer sein, die sich mit einer sehr jungen Frau zusammengetan haben, die geheiratet haben, und die wurden in der Öffentlichkeit vorgeführt, verspottet, verhöhnt und dadurch beschämt.“
Bekanntestes Beispiel aus neuerer Zeit ist das Kahlscheren französischer Frauen nach 1945 als Strafe für die „horizontale Kollaboration“ mit dem Feind. „Wenn Frauen sich als Verräterinnen an der nationalen Sache geoutet haben, indem sie – meistens freiwillig eine Beziehung mit einem Besatzungssoldaten eingegangen sind, wurden sie anschließend dafür von ihrer eigenen Gruppe zur Rechenschaft gezogen“, so Frevert.
„Dass dort dann eine Dorfgemeinschaft diese Person abgeführt hat, den örtlichen Coiffeur bestellt hat, der ihr die Haare geschoren hat, zum großen Hallodri aller Umstehenden, und sie anschließend noch mal durchs Dorf geführt hat, um sie mit dieser schamvollen Rasur auszustellen.“
Haare signalisieren auch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Das gilt für einheitliche Schnitte, etwa beim Militär. Aber noch mehr galten die natürlichen Unterschiede in Haarstruktur und -farbe als „racial signifier“:
Im europäisch-kolonialistischen Blick war das dunkle krause Haar „schlecht“ – „gutes Haar“ musste blond und glatt sein. Also versuchten vor allem in den USA immer mehr Schwarze, es zu glätten, zum Teil sogar zu färben. Das fällt zusammen mit einer Kommerzialisierung der Schönheitskultur Anfang des 20. Jahrhunderts, sagt Silke Hackenesch von der Universität Köln, Abteilung Nordamerikanische Geschichte:
„Viele, die diese Produkte benutzt haben, also primär auch Frauen, haben das aber nicht so verstanden, dass sie das tun, weil sie eigentlich weiß sein möchten, sondern dass man sich das leisten kann, solche Produkte zu kaufen. Man ist dann attraktiv, gepflegt, und es galt auch als modern und urban.“
Der "Afro" als Symbol für schwarzen Stolz
Noch heute haben Afroamerikanerinnen und -amerikaner mit natürlich krausem Haar in den USA schlechtere Chancen im Beruf. Selbst Michele Obama trug als First Lady immer geglättete Haare.
"Ich kann mich an einen Vortrag der Schriftstellerin Chimamanda Adichie erinnern, die gesagt hat, wenn Michelle Obama ‚natural hair‘ gehabt hätte, wäre Barack Obama nicht Präsident der USA geworden. Worauf sie hinweist, dass geglättetes Haar nach wie vor als respektabel, als gepflegt, als attraktiv gilt und andere Hairstyles mit ganz vielen Vorurteilen belegt sind. Der Afro gilt so als radikaler, militanter Chic, andere Styles wie Dreadlocks werden dann populär-kulturell oft in Richtung Gangs gelesen, und bestimmte Stereotype haften eben sehr stark an Hairstyles.“
Denn diese Frisuren wurden als Widerstandszeichen benutzt, etwa von der Black-Power-Bewegung in den 1960er-Jahren:
„Der Afro wurde zunehmend zum Symbol für schwarzen Stolz und schwarze Schönheit“, unterstreicht Hackenesch. Angela Davis, eine Schlüsselfigur der Schwarzen Bürgerrechts- und Frauenbewegung, trägt ihren voluminösen Afro bis heute als Zeichen ihres Kampfes. Auch die unterschiedlichen Zopffrisuren haben eine Protestgeschichte, sie weisen zum Beispiel zurück in die Zeit der Sklaverei.
„Da gab es aufwendige Flechtfrisuren, die auch so Fluchtwege in die Haare geflochten haben“, sagt Alexandra Karentzos: „Dass man quasi eine Landkarte auf dem Kopf hatte, was für die einen sehr deutlich, für die anderen ein verstecktes Zeichen des Widerstandes war.“
„Da gab es aufwendige Flechtfrisuren, die auch so Fluchtwege in die Haare geflochten haben“, sagt Alexandra Karentzos: „Dass man quasi eine Landkarte auf dem Kopf hatte, was für die einen sehr deutlich, für die anderen ein verstecktes Zeichen des Widerstandes war.“
Heute sind Dreadlocks, Afro oder Flechtfrisuren – bei Männern und Frauen – eher unpolitisch, Teil eines riesigen Schönheitsmarktes mit eigenen „Afrofriseuren“, die oft der US-amerikanischen Tradition folgend in Barbershops Schere und Rasierer schwingen.
Erwachsenwerden – mein Kopf gehört mir
In vielen Kulturen gehört das Haareschneiden zu den Initiationsritualen: In Japan etwa wird dem Kind nach 30 Tagen der Kopf rasiert, um es anschließend im Tempel segnen zu lassen und dann allen Verwandten zu präsentieren. Bei uns ist es für die meisten Menschen auch ein Entwicklungsschritt, die Haare selbstbestimmt zu verändern, weiß die Friseurin Claire Lachky:
„Viele haben ja wirklich so ein Kindheitstrauma mit einem Pony, was einfach von den Eltern beschlossen wurde, ich wurde auch mit einem Eis in die Stadt reingelockt und dann beim Friseur reingezerrt.“
Jugendliche tragen die Haare plötzlich raspelkurz oder lassen sie einfach wachsen. Auch eine neue schrille Farbe macht dem Umfeld klar: „Ich habe jetzt meinen eigenen Kopf“! Bei Erwachsenen kann ein neuer Haarschnitt helfen, in Umbruchzeiten ein Gefühl von Kontrolle zu behalten oder zurückzugewinnen.
„Wenn man nach einer Trennung zum Beispiel sagt: Der stand auf meine Haare, die schneid ich jetzt erstmal kurz, damit schneide ich mir diesen Menschen aus dem Herzen – klar, das passiert“, so Claire. „Es wird tatsächlich genutzt, auch irgendwo zu sagen: ‚Hey, hier ist was passiert bei mir im Leben, und das hat was mit mir gemacht und das trag ich jetzt nach außen.‘“
Schon in der Antike gab es Friseure
Frisuren hängen von den unterschiedlichen Schönheitsvorstellungen der jeweiligen Zeit und Kultur ab: Vor 5000 Jahren, im alten Ägypten, wurden Haare schon gefärbt: Rotorange war besonders beliebt, die Hennapflanze von den Ufern des Nil machte es möglich.
Später ließ man die Häupter auch in Blau und Grün erstrahlen. „Haarmacher“ gingen von Tür zu Tür, schnitten Frisuren oder knüpften Perücken. In den Königshäusern waren sie die wichtigsten Höflinge und Vertraute der Herrscher – logisch, schließlich agierten sie mit Messer und Schere unmittelbar an deren Hals und Kopf.
Auch die Griechen und Römer hatten eine ausgeprägte „Haarkultur“, für die spezielle Sklavinnen zuständig waren. Die mussten auch ihre eigenen langen Haare für die Perücken der Herrschaften hergeben – am liebsten blonde. Im alten Rom gab es sogar Friseurschulen und namentlich bekannte „Promi-Friseure“.
Nach dem Untergang des Römischen Reiches spielte die Haartracht noch einmal eine besondere Rolle: Die Merowinger, die ersten fränkischen Könige, ritten mit langer wallender Mähne durch die Geschichte: als Zeichen ihrer Herrscherwürde. Das schulterlange Haar demonstrierte Freiheit und Macht des Herrschergeschlechts. Bis die Karolinger sie im 7. Jahrhundert entmachteten und den merowingischen Haarkult verspotteten.
Tausend Jahre und ein Zeitalter später, in der frühen Neuzeit, hätten sich Pippin, Karl der Große und Ludwig der Fromme wohl kringelig gelacht, wenn sie gesehen hätten, wie in der vornehmen Gesellschaft aufwendige Perücken zum Statussymbol wurden.
Aber dann änderte sich eh alles, weil sich immer breitere Kreise der Gesellschaft mit ihren Frisuren beschäftigten, technische Erfindungen und Haarpflegeprodukte immer neue Trends hervorbrachten und sich ein ausdifferenzierter Berufsstand entwickelte: Perückenmacher, Barbiere, Friseure.
„Das ist ein anspruchsvoller Beruf“, sagt Friseurin Claire. „Man muss von der Persönlichkeit gut aufgestellt sein, man muss handwerklich fit sein, und wenn das dann mal in der Gesellschaft gesehen wird und die Menschen bereit sind, auch für dieses Handwerk entsprechend Geld zu zahlen, das freut mich auch, weil unser Beruf wirklich keine gute Lobby hat.“
Die neue Haarfreiheit kam in den Sechzigern
Claire Lachky darf vielleicht darauf hoffen, dass mit dem Lockdown auch das Bewusstsein für die Bedeutung des Friseurhandwerks wächst. Nach wenigen Wochen des Verbots körpernaher Dienstleistungen zeigte sich, wie wichtig die Professionalität und Virtuosität der Friseurinnen und Friseure für das Straßenbild sind.
„Ich habe 89 mit der Ausbildung begonnen, die 90er-Jahre in einer Kleinstadt gearbeitet, und die Leute kamen teilweise wöchentlich zum Friseur, ließen sich die Haare waschen und legen und wollten wirklich immer gleich aussehen. Das hat bei mir einen absoluten Widerwillen erzeugt, weil ich so was nicht verstehen kann. Weil ich finde: Haare sind eine Spielfläche, wo man auch mal experimentieren kann.“
Deswegen ist Claire Lachky nach Berlin gegangen, wo sie auf den Köpfen ihrer Stammkunden in Prenzlauer Berg die neue Haarfreiheit unserer Zeit ausleben kann. Die vor einem halben Jahrhundert mit Lust und großem Getöse erkämpft wurde.
1967 berichtet ein Reporter des NDR von einem belebten Platz in Hannover über eine Ansammlung langhaariger Jugendlicher, wörtlich: „ein unappetitliches, aber friedliches Völkchen“ – und fängt Passantenstimmen dazu ein:
„Dass man solche Frechheit besitzt und sich an die Öffentlichkeit wagt, in dieser Aufmachung – ist ja eine Sünde und Schande für uns“, hieß es da. „Die sollen arbeiten gehen.“ Oder: „Wenn ich einen Sohn hätte, der so rumlief, dem würde ich selbst die Haare schneiden. Und wenn ich eine Tochter hätte, die mit so einem Jungen ging, die würde ich halb lahm schlagen, glauben Sie mir das. So was ist doch nicht normal.“
Frisuren sind schon bald nach dem Zweiten Weltkrieg das Hauptkampfmittel im Generationenkonflikt: Spießer gegen Jugendkultur, gestern gegen heute. In den 1950er-Jahren schocken die „Halbstarken“ nicht nur mit Lederjacke, Jeans und Rock‘n‘Roll, sondern tragen spezielle Frisuren als Zeichen: den „Duck Ass“, zu Deutsch: „Entenarsch“ – etwas längere Haare mit Pomade von beiden Seiten nach hinten gelegt. Auch Elvis-Tolle und die „Pilzköpfe“ der Beatles sind Kampfansagen – oder einfach „lange Haare“.
„Langes Haar bei Männern in den 1960er-Jahren wurde ja auch als Protest gegen den Vietnamkrieg gesehen, gegen diese militärischen Kurzhaarfrisuren“, sagt Alexandra Karentzos.
„Die langen Männerhaare sind ja auch Zeichen der sozialen Unordnung. Man wendet sich gegen die Bürgerlichkeit der eigenen Eltern, und gleichzeitig geraten auch Geschlechtergrenzen in Bewegung mit dem langen Haar. Das kann man ganz schön auf Fotografien aus der Hippiezeit sehen, dass alle eben lange Haare mit Mittelscheitel tragen und alle auch Hosen tragen oder weite Gewänder. Dadurch wird ja auch hervorgehoben, dass alle gleich seien.“
"Bei Adolf hätte es das nicht gegeben"
In Deutschland wecken die „Langhaarigen“ oder „Gammler“ bei manchen Älteren eine sehr spezielle Vergangenheitssehnsucht:
„Die gehören ins Arbeitshaus beziehungsweise mit Knüppeln hier runterjagen. Bei Adolf hätte es so was nicht gegeben“, hieß es in einer Umfrage. Oder: „Ich würde Insektenmittel vorschlagen, dass die hier restlos ausgeräuchert werden.“ Und wieder ein anderer sagte: “Können Sie kein Benzin besorgen und das Zeug verbrennen? Dieses Gesindel da.“
„Die gehören ins Arbeitshaus beziehungsweise mit Knüppeln hier runterjagen. Bei Adolf hätte es so was nicht gegeben“, hieß es in einer Umfrage. Oder: „Ich würde Insektenmittel vorschlagen, dass die hier restlos ausgeräuchert werden.“ Und wieder ein anderer sagte: “Können Sie kein Benzin besorgen und das Zeug verbrennen? Dieses Gesindel da.“
Auch den Altvorderen in der DDR sind die Langhaarigen zuwider:
"Sie waschen sich nicht und stinken, ihre zottelige Mähne ist verfilzt und verdreckt, sie gehen der Arbeit und dem Lernen aus dem Wege." So war es 1966 im Neuen Deutschland zu lesen, damals Zentralorgan der SED.
"Sie waschen sich nicht und stinken, ihre zottelige Mähne ist verfilzt und verdreckt, sie gehen der Arbeit und dem Lernen aus dem Wege." So war es 1966 im Neuen Deutschland zu lesen, damals Zentralorgan der SED.
Aber die Zeiten ändern sich, in West und Ost. In den 70er- und 80er-Jahren werden die verschieden langen Haare selbstverständlicher Teil der Jugendkultur, jetzt kommt es auf den „Style“ an: Punks mit bunt gefärbtem „Irokesen-Schnitt“, „Popper“ mit extra-langem, fein geföntem Pony. Menschen mit „Vokuhila“ oder „Manta-Matte“ – oder die „Skinheads“, deren kahl geschorene Köpfe eine politische Botschaft aussenden:
Ursprünglich waren es Angehörige der englischen Arbeiterjugend. Die wollten sich von den Hippies und anderen Bürgerkindern absetzen, außerdem brachte es Vorteile in einer Schlägerei – der Gegner konnte einem nicht in die Haare greifen. So verbreitete sich der blanke Schädel in der Hooliganszene auch als Signal der Gewaltbereitschaft. Glatzen sind zum Synonym für rechtsradikale Protestszenen geworden. Aber nicht nur:
Durch Actionstars aus Hollywood wie Bruce Willis oder Dwayne Johnson hat die Glatze auch für Otto Normalverbraucher einen eigenen Glanz. Und dann gibt es da noch den Glanz des glatzköpfigen kritischen Intellektuellen – wie ihn der französische Philosoph Michel Foucault aussendet:
„Foucault hat das sehr stark inszeniert, mit der dicken Brille und immer dem weißen Rollkragenpullover, dass gerade der Intellektuelle Glatze tragen darf, das zeigt ja gewissermaßen seine Kopfarbeit.“