Michael Schikowski ist für Verlage und Buchhandlungen tätig und Lehrbeauftragter an den Universitäten Bonn und Düsseldorf. Er publizierte zuletzt den Essay "Im Buchhaus: Wohnzimmer, Bücherei, Buchhandlung". Seit einigen Jahren stellt er die Erzähler des 19. und 20. Jahrhunderts in Leseabenden vor, die auf seiner Seite mit weiteren Rezensionen zu finden sind.
Bücher sind Vorratsspeicher
Kulturgut ist ein Begriff, der nicht nur Gegenstände umfasst wie das Buch, sondern ein Kulturgut fordert immer zugleich auch den lebendigen Umgang mit diesem Gut, also ein Handeln, meint der Publizist Michael Schikowski.
Aus Erfahrung weiß man, dass Bücher, die man nicht oder nur zum Teil verstanden hat, unvergesslich sind. Das ist paradox. Aber das Unverständliche ordnet sich nicht ein, man bekommt es nicht in den Griff, es bleibt ein Ärgernis, darum auch in Erinnerung.
Allein, zunächst gilt doch wohl, dass Texte verstanden werden wollen! Das scheint aber nicht fürs Bücherlesen zu gelten. Es könnte also sein, dass das Nichtverstehen bei Büchern sogar wichtiger als das Sofortverstehen, das Unverständliche wichtiger als das Selbstverständliche ist.
Allein, zunächst gilt doch wohl, dass Texte verstanden werden wollen! Das scheint aber nicht fürs Bücherlesen zu gelten. Es könnte also sein, dass das Nichtverstehen bei Büchern sogar wichtiger als das Sofortverstehen, das Unverständliche wichtiger als das Selbstverständliche ist.
Intellektuelle Vorratshaltung
Bücher wären dann Sprachspeicher, eine Art intellektueller Vorratshaltung. Man bekommt hier etwas mitgeteilt, dass man gar nicht gebrauchen kann, jedenfalls nicht sofort.
Vielleicht ist das der Wert des Buches als Kulturgut. Ihr Wert besteht genau nicht in der aktuellen Verwertung, sondern in einer späteren oder zukünftigen. Wie aber sollen diejenigen, die nur aktuelle Verwertungskriterien kennen, diese Vorsicht als Voraussicht einsehen lernen? Wie sollen sie diesen Vorrat, der ihnen jetzt zu nichts nütze scheint, als schützenswerten kulturellen Vorrat begreifen?
Nun, vielleicht dadurch, dass Buchkultur über notwenige Bestandspflege und Leseappelle hinaus erlebt wird. Lasst uns weniger vom Lesen als von Büchern sprechen, an denen wir zeigen, was Lesen sein kann.
Ist denn nicht etwa der "Zauberberg" von Thomas Mann, vor allem was die Passagen der Auseinandersetzungen von Settembrini und Naphta angehen, ein Spiegel der heutigen Kämpfe, in denen die als schwacher Firnis empfundene Zivilisation, vertreten von Settembrini, gegenüber den als tief behaupteten Wahrheiten des politischen Extremismus Naphtas in die Defensive gerät?
Ist denn nicht Heinrich Bölls "Ansichten eines Clowns" der Künstlerroman zur Zeit, in dem dem heruntergekommenen Künstler Schnier beschieden wird, er habe doch seine Kunst als Quietiv, und zugleich von drei Barockmadonnen die Rede ist, von der die, die am Telefon hängt, als die "minderwertigste" bezeichnet wird. Hier ist Kunst Beruhigung und Berechnung.
Und ist denn nicht Anna Seghers "Transit" der Roman zur Zeit, in dem der Erzähler, ein Flüchtling, meint, er habe nur diese eine Jugend, und die ginge ihm daneben.
Vielleicht ist das der Wert des Buches als Kulturgut. Ihr Wert besteht genau nicht in der aktuellen Verwertung, sondern in einer späteren oder zukünftigen. Wie aber sollen diejenigen, die nur aktuelle Verwertungskriterien kennen, diese Vorsicht als Voraussicht einsehen lernen? Wie sollen sie diesen Vorrat, der ihnen jetzt zu nichts nütze scheint, als schützenswerten kulturellen Vorrat begreifen?
Nun, vielleicht dadurch, dass Buchkultur über notwenige Bestandspflege und Leseappelle hinaus erlebt wird. Lasst uns weniger vom Lesen als von Büchern sprechen, an denen wir zeigen, was Lesen sein kann.
Ist denn nicht etwa der "Zauberberg" von Thomas Mann, vor allem was die Passagen der Auseinandersetzungen von Settembrini und Naphta angehen, ein Spiegel der heutigen Kämpfe, in denen die als schwacher Firnis empfundene Zivilisation, vertreten von Settembrini, gegenüber den als tief behaupteten Wahrheiten des politischen Extremismus Naphtas in die Defensive gerät?
Ist denn nicht Heinrich Bölls "Ansichten eines Clowns" der Künstlerroman zur Zeit, in dem dem heruntergekommenen Künstler Schnier beschieden wird, er habe doch seine Kunst als Quietiv, und zugleich von drei Barockmadonnen die Rede ist, von der die, die am Telefon hängt, als die "minderwertigste" bezeichnet wird. Hier ist Kunst Beruhigung und Berechnung.
Und ist denn nicht Anna Seghers "Transit" der Roman zur Zeit, in dem der Erzähler, ein Flüchtling, meint, er habe nur diese eine Jugend, und die ginge ihm daneben.
Bücher sind Ressourcen der Welterklärung
Diese Bücher, der "Zauberberg" nicht weniger als die "Ansichten" oder "Transit" sind Ressourcen der Welterklärung. Wenn sie darauf angewiesen sein sollten jetzt und sofort ihre Nützlichkeit zu beweisen – in Buchhandlungen wären das Verkaufs- in Bibliotheken Entleihzahlen – fliegen sie aus dem Bestand.
Aus persönlicher Selbstbetroffenheit kennen wir diese Aufschiebung aktueller Verwertung – aus der Schule. Dort geht es genau nicht darum, lebenspraktische Aufgaben zu bewältigen, zum Beispiel einen Mietvertrag aufzusetzen, sondern an fiktionalen Texten Vieldeutigkeit zu erkennen – das hilft dann auch beim Mietvertrag.
Und was gelegentlich als bloße Transformation der Buchkultur gepriesen wird – scannen, hochladen, finden – bedeutet im Kern, dass Bücher als bloßes Granulat der Digitalkultur genau nicht mehr als ganze Objekte an bestimmten Orten zur Verfügung stehen. In den Alltagsroutinen solch krümeliger Kulturverwertung fehlt dem Kulturgut Buch diese deutliche Abhebung vom Alltag.
Buchkultur ist aber darauf angewiesen sich abzuheben, nicht um uns zu erheben, sondern um zuallererst sichtbar zu werden. Im Kulturgut Buch wird das Ferne herangeholt und das Nahe so distanziert, dass es uns zum Spiegel wird – oder werden kann. Seine rätselhafte Fremdheit ist ein Ärgernis, die uns darum länger beschäftigt. Bis uns das fremde Buch auf eine neue Weise dann doch einleuchtet und damit das Kulturgut Buch, als Erkenntnis und Erlebnis zugleich, beglaubigt, und aus Sprachspeichern werden Sprechhilfen.
Aus persönlicher Selbstbetroffenheit kennen wir diese Aufschiebung aktueller Verwertung – aus der Schule. Dort geht es genau nicht darum, lebenspraktische Aufgaben zu bewältigen, zum Beispiel einen Mietvertrag aufzusetzen, sondern an fiktionalen Texten Vieldeutigkeit zu erkennen – das hilft dann auch beim Mietvertrag.
Und was gelegentlich als bloße Transformation der Buchkultur gepriesen wird – scannen, hochladen, finden – bedeutet im Kern, dass Bücher als bloßes Granulat der Digitalkultur genau nicht mehr als ganze Objekte an bestimmten Orten zur Verfügung stehen. In den Alltagsroutinen solch krümeliger Kulturverwertung fehlt dem Kulturgut Buch diese deutliche Abhebung vom Alltag.
Buchkultur ist aber darauf angewiesen sich abzuheben, nicht um uns zu erheben, sondern um zuallererst sichtbar zu werden. Im Kulturgut Buch wird das Ferne herangeholt und das Nahe so distanziert, dass es uns zum Spiegel wird – oder werden kann. Seine rätselhafte Fremdheit ist ein Ärgernis, die uns darum länger beschäftigt. Bis uns das fremde Buch auf eine neue Weise dann doch einleuchtet und damit das Kulturgut Buch, als Erkenntnis und Erlebnis zugleich, beglaubigt, und aus Sprachspeichern werden Sprechhilfen.
Michael Schikowski ist für Verlage und Buchhandlungen tätig und Lehrbeauftragter an den Universitäten Bonn und Düsseldorf. Er publizierte zuletzt den Essay "Im Buchhaus: Wohnzimmer, Bücherei, Buchhandlung". Seit einigen Jahren stellt er die Erzähler des 19. und 20. Jahrhunderts in Leseabenden vor, die auf seiner Seite www.immerschoensachlich.de mit weiteren Rezensionen zu finden sind.