Wie kommt wieder Leben in die City?
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Billigketten, Spielhallen, Leerstand: Die Fußgängerzonen im Ruhrgebiet sind vielerorts in trostloser Verfassung. 40 Prozent der Einzelhändler in Nordrhein-Westfalen sind derzeit in akuter Existenznot. Was tun zwischen Recklinghausen und Wuppertal?
Von Karstadt ist nur noch ein hohles Betongerippe übrig. Trotzig kündet der entkernte Klotz in der Fußgängerzone von Recklinghausen wie ein Fanal von der Vergangenheit des ältesten, bekanntesten und einstmals edelsten Vollsortimenters Deutschlands.
Als es auch in Recklinghausen noch hieß: Man geht zu Althoff - so hieß der Kaufmann aus dem münsterländischen Dülmen, der 1920 gemeinsam mit Herrn Karstadt aus Ostdeutschland zum Begründer des späteren Warenhaus-Imperiums wurde. Damals - als es noch kein Online und auch keine Outlets gab. Und jetzt auch noch Corona!
Es ist nach 18.00 Uhr. Herr Deluweit von der feinen Kaffeerösterei Edel gegenüber schließt seine Ladentür ab: "Weil ab 18.00 Uhr nichts mehr verkauft wird in Recklinghausen. Schon seit Jahren nicht und deswegen habe ich es dann geändert."
Auf dem Marktplatz grüßen herausgeputzte Bürgerhäuser den Besucher. Der Marktplatz: Seit dem Frühmittelalter Treffpunkt für Handel, Unterhaltung und Kultur. Und meist auch Sitz der Verwaltung. Fußgänger oder Flaneure sind hier jedoch so gut wie keine mehr unterwegs.
Die Geschäfte: alle zu. Auch von Kultur: keine Spur.
Recklinghausen hatte eine schöne Innenstadt
"Wir als Recklinghäuser sind auch traurig, wie sich die Innenstadt entwickelt. Und es waren schöne Zeiten hier. Ich komme selber aus dem Handel und gerade, als jetzt alles geschlossen war, wurde viel über das Internet bestellt. Wegen Corona. Die Breite Straße ist eine reine Katastrophe."
In der einstigen Flanier- und Einkaufsstraße reiht sich Leerstand an Leerstand. Mitten drin: Das "Studio 63", ein Kino. Seit gefühlten 20 Jahren läuft hier kein Film mehr. Unlängst wollten hier zwei renommierte Architekturprofessoren ein Theater und in Zeiten von Corona einen bundesweit einzigartigen virtuellen Kulturraum einrichten. Bühne und sogar einen Orchestergraben gibt es noch. Nun wird alles abgerissen. Die Stadt will lieber ein Hotel.
Auch hat die Coronapandemie und die damit verbundenen Verluste der Geschäfte eines erneut deutlich gemacht: Der stationäre Einzelhandel in den Innenstädten verliert mehr und mehr Umsatz an den Onlinehandel und an große Einkaufszentren am Stadtrand.
40 Prozent der Einzelhändler in Nordrhein-Westfalen sind derzeit in akuter Existenznot. Um die Einzelhandelskultur in den Innenstädten gerade in Zeiten von Corona zu stützen, haben die Industrie-und Handelskammern im September die Konsumenten zur Aktion "Heimat shoppen" eingeladen.
Recklinghausen nimmt nicht daran teil. Aber das Städtchen gleich nebenan. Allerdings ist in Oer-Erkenschwick das Einkaufsviertel inzwischen vollständig heruntergekommen, mit teilweise brettervernagelten Fassaden.
Paradox: Leerstand ist für Vermieter mitunter günstiger als Vermietung. Sie wälzen ihre Verluste und laufenden Betriebskosten einfach auf die Allgemeinheit ab. Das Zentrum der einstigen Kohlestadt dominieren fünf Billigläden, ein Drogeriemarkt sowie mehrere Spielhallen.
Bettengeschäft, Uhrmacher und Haushaltswarenladen
Was hat die Stadtverwaltung zum Heimat-Shoppen-Tag der IHKs geplant? Was tut sie, um den noch verbliebenen inhabergeführten Handel, die ehrbaren Kaufleute des Bettengeschäfts Kähning, den Uhrmacher Visser oder den Haushaltswarenladen Kimmel zu unterstützen?
Anruf bei der städtischen Wirtschaftsförderung: "Die von Ihnen gewählte Nummer ist vorübergehend nicht erreichbar."
Im Internet präsentiert sich die Stadt: "Als Partner des Handels, in allen Unternehmensphasen hilft sie bei den erforderlichen Schritten!"
Ein City-Manager werde alles richten, erklärte die Stadt schon vor über einem Jahr. Die erste halbe Million Euro unter anderem für diese Stelle wurde Ende letzten Jahres vom Land NRW genehmigt. Nur: Wo ist sie oder er, um die Innenstadt endlich in Schwung zu bringen?
Erneuter Versuch einer Kontaktaufnahme: "Die von Ihnen gewählte Nummer existiert nicht oder wurde gelöscht. Überprüfen Sie die Nummer und wählen Sie erneut."
Mit einer neuen Qualität der Stadtgestaltung will derzeit Bochum punkten. Gemeinsam mit einer Hamburger Planungsfirma wird unter dem Titel "Tapetenwechsel" die Innenstadt "aufgemöbelt" und renoviert, erklärt Bettina Zobel vom Stadtmarketing.
"Wir versuchen, den Tapetenwechsel", sagt sie, "auch gefördert mit anderen Aktionen wie dem Soforthilfeprogramm vom Land NRW zusammen mit Planungsamt und Wirtschaftsförderung, größer zu denken. Auch in Leerstände zu gehen."
Inzwischen gibt es in besten Lagen als Dauereinrichtung ein Repair-Café und einen Food-Sharing-Laden.
"Unter anderem gibt es Möhren, Broccoli, Nektarinen, Pfirsiche und die Kühlschränke sind auch noch voll. Von der klassischen Tafel unterscheidet uns, dass es bei uns bedingungslos ist. Bei uns ist jeder willkommen, unabhängig vom Einkommen, darf hier jeder bei der Lebensmittelrettung mitwirken."
Kultur, Wohnen, Dienstleistung
Gleichzeitig werden Einzelhändler ermutigt, ihr Angebot zu erweitern, nach dem Beispiel von Couturier Alexander Eiskirch.
"Wir befinden uns hier oben in unserem Damenbekleidungs-Modegeschäft", erzählt er. "Wir gehen jetzt in die unteren Räume, wo sich unser Maßatelier befindet, wo wir für Damen und Herren Maßbekleidung designen."
Und nicht zuletzt: Inmitten der Fußgängerzone ein Kulturtreffpunkt in einer ehemaligen Eckkneipe, die ebenfalls lange leer stand. Kultur, Versorgung, Dienstleistung und im günstigen Falle auch noch Wohnen mitten in der Stadt.
Dieser Traum einer "Innenstadt der kurzen Wege" schwebte auch den Planern des "Marler Stern" vor. Knapp 15 Kilometer von Bochum entfernt. Es war nicht einfach ein Einkaufszentrum, das hier im Oktober 1974 in Marl eingeweiht wurde, sondern eine architektonische und städtebauliche Meisterleistung, eine Sensation und Vision. Bis heute.
Denn: Im "Stern" finden sich Geschäfte, Kulturangebote, Wohnungen und die Stadtverwaltung unter einem Dach. Erklärt Gert Eiben, langjähriger Chef der Marler Lokalzeitung WAZ, der den Besucher durch den "Stern" führt.
"Die sind ja noch viel cleverer gewesen! Die haben die Volkshochschulen hier reingelegt. Die Stadtbücherei", sagt er. "Hier ist sogar die Verbraucherzentrale. Wohnen. Und im weiteren Bereich gibt es auch noch Büros."
Doch auch der "Marler Stern" ist im Laufe der Zeit gesunken, leidet unter Leerständen. Jetzt will der neue Investor, ein ehemaliger Marler Banker, Factory-Outlet-Shops in den "Stern" holen. Unten im Erdgeschoss der lokale Einzelhandel, oben die großen Ketten. Getreu der Idee des Düsseldorfer Stararchitekten Walter Brune.
Der inzwischen 96-jährige Brune hat unzählige Warenhäuser in NRW gebaut, und hat mehrere Bücher geschrieben mit Titeln wie "Angriff auf die Städte" oder "Stoppt die Verödung unserer Innenstädte durch Outlet-Center". Die Ansiedlung von Factory oder Designer-Centern an die Stadtränder hält er - mit einem Wort - für "kriminell".
"Da geht es ja schon hoch her über die Genehmigung dieser Zentren", sagt er. "Aber die Politiker sind schwach. Das ist wirklich ein Warnruf, der ganz ernst gemeint ist: Wenn Outlet-Ware, dann in die Innenstadt. So wie Bad Münstereifel das gemacht hat. Das war auch eine Stadt mit vielen leeren Läden, die haben das Outlet in die Stadt geholt und siehe da, da ist richtig Leben in der Stadt. Als Motor und nicht als Feind."
Buhlen um die Outlet-Center
In Wuppertal saß dieser Feind allerdings im Nachbarort Remscheid. Die Marschrichtung des Wuppertaler Stadtrates war eindeutig. Es galt, den örtlichen Handel nicht zu verraten und zu verkaufen und daher das geplante Outlet-Center im nahen Nachbarort Remscheid per Klage unbedingt zu verhindern. Gutachten folgte auf Gegengutachten.
Schließlich einigt man sich auf eine Art Burgfrieden. Die Fläche des Remscheider Outlet-Centers soll für bestimmte Sortimente wie Kleidung und Schuhe verkleinert werden.
Doch: Glaubt Wuppertals Oberbürgermeister Andreas Mucke wirklich diesem und allen anderen Versprechen des Investors? Dass dabei sogar Arbeitsplätze für Wuppertaler "herauspringen"? - Besuch im Rathaus.
"Guten Morgen! Also ich glaube an den lieben Gott", sagt er. "Es gibt ja nicht den barmherzigen Investor, die wollen ja alle Geld verdienen. Und da muss man auch die Sprache der Investoren sprechen. Aber Versprechungen und Zusagen von Investoren, die glaube ich erst, wenn sie eingetreten sind. Es kann gut sein. Aber ich hoffe, dass es einige werden. Vor allem die nachhaltige Entwicklung im Auge behalten. Was haben wir davon, wenn wir irgendwo Schnäppchen kaufen können, aber hinterher die Lebensqualität in den Städten weg ist, wenn ich keine Innenstädte mehr habe."
"Gehen Sie unbedingt zu Frau Putty", rät das Wuppertaler Presseamt. Denn für diese innerstädtische Lebensqualität steht seit nunmehr 106 Jahren keiner so beispielhaft wie "Bürobedarf Illert". Ladeninhaberin Eleonore Putty, ehrenamtlich engagiert in der örtlichen Händlergemeinschaft, repräsentiert mit ihrem Geschäft genau das, was die allermeisten Konsumenten sich beim Einkauf im Handel wünschen: Qualitativ gute Produkte zu einem anständigen Preis. Und eine gepflegte Dienstleistungskultur – ohne sich dabei neuen Trends zu verschließen.
"Die Schränke, die aussehen wie in einer Apotheke und die hölzernen Regale, das ist noch aus der ursprünglichen Einrichtung", erzählt sie. "Wir haben uns natürlich auch Gedanken gemacht, wie unsere Zukunft aussieht. Und sind bei einem Modell eingestiegen, das ist 'Online City Wuppertal'. Wir haben eine Kooperation gegründet mit zwei Schulen. Wir führen Listen auf dieser Plattform nach den Jahrgängen, und der Bedarf der Schüler wird darauf aufgelistet."
Mittlerweile besinnt man sich in den Städten der Region anscheinend tatsächlich wieder mehr und mehr auf den Erhalt des gewachsenen Kulturgutes Innenstadt und des traditionellen Einzelhandels. Ob es dann doch noch zum Bau der etwa 18 Outlets in NRW durch internationale Investoren kommt? Wie das riesige Designer-Outlet auf einer Industriebrache in Duisburg? Mit Hugo Boss und Prada, Villeroy und Boch, Hermes oder Gucci?
"30.000 Quadratmeter waren hier geplant"
Michael Rüscher, Geschäftsführer der IHK Niederrhein schaut über das riesige Gelände.
"30.000 Quadratmeter waren hier geplant", erklärt er. "Wir als IHK waren dagegen. Innenstädte sind auch Orte der Kultur, des Austausches. Der Traum ist dann für den Investor geplatzt. Es gab erheblichen Widerstand der Wirtschaft, aber auch von Seiten der Bürger. Jetzt wird hier ein ganz neuer Stadtteil entstehen mit Wohnungen und Dienstleistung. Ich denke, dass sich die Innenstädte gesundschrumpfen. Wir müssen die Standorte, die wir haben, absichern durch Konzentrationsprozesse, dann gibt es einen ganzen Werkzeugkasten an Stadtmarketing, Leerflächenmamagent, Events,um die Leute in die Innenstädte zu holen. Und das dann auch zu vermarkten und darauf hinzuweisen."