Kulturhauptstadt Essen

Von Jo Bullmann |
Im Jahre 2010 wird eine deutsche Stadt den Titel "Kulturhauptstadt Europas" tragen. Eine deutsche Stadt. Oder auch zwei. Zwei Bewerber werden in Brüssel ins Rennen gehen: die Ruhrstadt Essen und die Europastadt Görlitz/Zgorzelec. Kandidat Nummer 1 Essen bewirbt sich für die Kulturhauptstadt Europas 2010 in zweifacher Hinsicht - als Stadt und als Vertreter der Ruhrregion. Die Stadtgeschichte ist interessant, das Werden der Region spannend. Hochkultur und Alltagskultur sind für die "Doppelbewerbung" charakteristisch.
Die Straßenbahn 107 folgt den Gleisen von der Emscherregion im Norden der Stadt bis in den Stadtteil Bredeney im Süden. Essen bewirbt sich für das Ruhrgebiet, Essen steht für das Ruhrgebiet. Hohe Arbeitslosigkeit und viel Kultur: Das Ruhrgebiet hat alles, nur kein Geld. Das Ruhrgebiet lebt von seinen Menschen: sie sind fleißig, herzlich und haben einen eigenem Humor. Auch wenn sie nicht gerne reden, nicht einmal über sich selbst, ihre Stadt und Kultur. Sie machen. Tatmenschen, die eine Landschaft zu einer einzigartigen Industrieregion im Zentrum Europas machten. Die 107 führt mittendurch:

"Abzweig Katernberg /Nächster Halt Zollverein"

Willy Brandt: "Verehrte Anwesende und Freunde aus dem Revier: Der Himmel über dem Ruhrgebiet muss wieder blau werden. "

"Das Design-Zentrum NRW ist jetzt hier auf der Zeche Zollverein im Kesselhaus untergebracht. Und wir zeigen hier die weltweit größte Design-Ausstellung an zeitgenössischem Design. Darüber hinaus sind wir ein Qualifizierungszentrum und beraten Industrieunternehmen aus aller Welt und von hier aus werden Ausstellungsprojekte vorwiegend im asiatischen Wirtschaftsraum geplant, die wir mit unseren Dependancen in Tokio und Singapur realisieren. "

Im Ruhrgebiet ist die Vision des damaligen Bundeskanzlers Willy Brandt Wirklichkeit geworden. Was als Strukturwandel begonnen hat, zeigt jetzt im Umbau einer ganzen Landschaft die neue Qualität einer internationalen Mega-City: Die Projekte der internationalen Bauausstellung IBA-Emscherpark, renaturierte Flüsse und Grüngürtel von Duisburg bis Dortmund – mittendrin das Weltkulturerbe Zollverein.

Zollverein ist keine Zeche – Zollverein ist DIE Zeche. Eine Kathedrale der Arbeit. Architektonisch eine einzigartige Synthese von Form und Funktion. Zollverein bestimmte mehr als 100 Jahre das Leben über und unter Tage: der Zusammenhalt der Kumpel bei der härtesten und schwersten Arbeit der Welt ließ eine eigene Kultur der Arbeit entstehen. Am 23. Dezember 1986 wurde die Förderung eingestellt. Erst sollte der Industriekomplex der Abrissbirne zum Opfer fallen, jetzt ist Zollverein Weltkulturerbe. Retrospektive und Zukunftsperspektive, im Weltkulturerbestadtteil Katernberg ist man erst mal skeptisch, aber im Grunde lieben alle ihre Zeche:

"Mein Mann war hier auf Zeche als die zugemacht haben auf Zollverein, ne. - Jetzt müssen wir sehen, wie wir klarkommen ohne Zeche. Ja, etwas sollte stehen bleiben davon! Zollverein und Kultur, ja da haben wir gearbeitet 37 Jahre. Da ist zwar ein Restaurant, aber für unsere Gehaltsklasse, was wir an Rente kriegen, da ist des etwas zu hoch, für uns Bergleute. Das einzige, wo ich da hingeh, das ist der Tanz in den Mai und ich weiß gar nicht, dass da Kammerkonzerte sind, is da? – Ich glaub, das ist noch nicht so publik gemacht. Dem Bergmann brauchse das nicht mehr erklären das Gehäuse, dat kennen wir in- und auswendig. Ich finde es lohnt sich für den Stadtteil, aber ob es in die Gänge kommt das bekomme ich nicht so mit. Ich würde mich freuen, wenn man da mehr von hören würde, das das aktueller gemacht, von jedem etwas, da wir ja - ich sag jetzt mal – türkische Mitbürger haben und deutsche Mitbürger sollte da von jedem etwas angeboten werden. "

Hier zeigt sich das Weltkulturerbe von seiner besten Seite. Die Straßenbahn geht in die Kurve und das Blickfeld öffnet sich auf den imposanten Doppelbock-Förderturm, die Kohlenwäsche und die verschiedenen Werkstatt- und Maschinenhäuser: ein einheitliches Backstein-Blend-Mauerwerk, aufgeteilt in Rechtecke, bestimmt den gesamten Industriekomplex mit der dahinter liegenden Kokerei:

Essen ist eine schrumpfende Stadt. Die alten Energien sind verbraucht, auf den postindustriellen Brachflächen entsteht Kultur, als neue und sich immer wieder erneuerbare Energie und Triebfeder gesellschaftlicher Entwicklung. Allein die Integration der seit 150 Jahren in das Ruhrgebiet strömenden Arbeitsmigranten ist eine Meisterleistung, rechtsgewirkte Parolen und Fremdenfeindlichkeit haben kaum eine Chance. Integration im Alltag: das typisch deutsche Brötchen gehört auch in türkisch- und arabischstämmigen Familien mittlerweile zum Frühstück. Zurzeit leben rund 500.000 Migranten im Ruhrgebiet. Dazu gehören jetzt auch viele deutschstämmige Russen aus Kasachstan, Schwarzafrikaner, Tamilien, Iraker und Afganistani, Integration nach Osten. Da krachen Kulturen aufeinander. Hautfarben, Kleidung von "streng arabisch-islamisch", über indische Saris bis zu bunten südafrikanischen Umhängen: Jeden Tag ist Modenschau in der Kulturstraßenbahn 107 zwischen Zollverein und der Stadtmitte und es herrscht ein unglaublicher Sprachsingsang: von Koreanisch über Türkisch bis Tamilisch.

Doch die Geschichte Essens beginnt nicht mit dem Industriezeitalter, mit der Kohleförderung und der Montanindustrie. Bereits im Mittelalter siedelten die ersten Bauern zwischen den Flüssen Ruhr im Süden und Emscher im Norden. Die Straßenbahn fährt bergauf, auf den Kapitelberg: Hier gibt es seit 500 Jahren ein Nonnenkloster, die Stiftskirche Maria in der Not. Sie gehört zum Bistum Essen.

Vor der Kultur der Arbeit stand die Kultur der Religion. Kunst war Sakralkunst. In Essen steht die Goldene Madonna aus dem Jahr 990, der wertvollste Kunstschatz Essens. Er steht im Dom, dem mittelalterlichen Stadtkern.

Heute ist der Dom Mittelpunkt des jüngsten Bistums Deutschlands, des Ruhrbistums. Der Dom selbst ist ein spätottonischer Kirchenbau, erbaut von 852 bis 1330.

In der Domschatzkammer sind Gegenstände aus der Gründungszeit des Bistums im Mittelalter zu sehen. Das Goldenen Schwert und die Kinderkrone Otto III. und lithurgische Utensilien.

Aus dem "liber ordenarius" wissen wir genau, was man mit dieser Goldenen Madonna hier im Essener Stift gemacht hat. Man hat sie an vier Tagen im Jahr bei einer Prozession durch das Stiftsgebiet getragen und so erklärt sich dieses auf Allansicht gearbeitete Bildnis der Heiligen Mutter Gottes als Prozessionsbild.

Die Goldene Madonna ist gerade restauriert. Auch die Hand des Jesuskinds ist wieder silbern, sie ist nämlich nicht aus Gold und war vor der Restaurierung schwarz angelaufen. Den Kindern, denen das natürlich auffiel, mussten Eltern und Großeltern mit der im Ruhrpott üblichen praktischen Herangehensweise an alles Weltliche - erklären, warum gerade das Jesuskind eine schwarze Hand hat, wo es doch immer heißt: Wasch dir die Hände!

"Die haben nämlich ihren Kindern hier immer die Geschichte erzählt, vom Jesuskind, was in die Kohlenkiste gegriffen hat, um diese schwarze Hand zu erklären. Das geht jetzt nicht mehr, wobei ich dem dann immer tröstliche Worte sage, sie müssen ja heute den Kindern erst mal erklären, was ne Kohlenkiste ist. "

Vom Porscheplatz zum Hauptbahnhof ist es nicht weit, statt mit der Straßenbahn 107, die hier als U-Bahn fährt, geht es zu Fuß durch die City zum nächsten Kulturpunkt:

Hier stehen Essens teuerste Gebäude: der gerade renovierte Saalbau, das Aaltotheater und gegenüber am Opernplatz 1 der Büroturm des Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerks. Das RWE steht für die weiße, saubere Energie, so heißen im Ruhrgebiet Strom und Gas – gewonnen aus der schwarzen Energie. Die Zentrale des International operierenden Konzerns ist 120 Meter hoch, aus Glas und Stahl ein architektonisches Juwel. Beim RWE kommen Strom und Geld aus der Steckdose, Kultur und Kommerz. Das RWE ist auch ein wichtiger Kultursponsor.

Zu Füssen des RWE-Towers das Aaltotheater und der Saalbau, hier ist Essen musisch. Hier dirigiert Lorin Maazel die New York Philharmonic, hier gastiert Kurt Mazur und das London Philharmonic Orchestra. Der Kölner Pianist Jacub Cizmarovic spielte bei der Programmvorstellung im Saalbau, er beurteilt den neuen Klang.

Auf dem Podium klingt es ein bisschen laut, aber dann hab ich ein bisschen aus dem Saal heraus gehört und von da aus klingt es doch sehr ausgewogen. Angenehm, spielt sich sehr gut darin, es macht Spaß …
Vorbei geht es unterirdisch am Folkwangmuseum und dem Ruhrlandmuseum, das demnächst als Ruhrmuseum ins das Weltkulturerbe Zollverein verlagert wird. Das Folkwangmuseum beherbergt eine der wichtigsten Kunstsammlungen mit Werken des 19. und 20. Jahrhunderts.

Die blumige Ecke von Essen beginnt: Die Gruga: einer der größten inner-städtischen Parks in Deutschland. Bekannter als der Ruheraum Grugapark ist die Grugahalle, wo Sport, Pop und Rockmusik zu Hause sind.

Den Rockpalast. In der vor 30 Jahren zum ersten Mal ausgestrahlten Fernsehsendung wurde in der Grugahalle ein neues Kapital Rockgeschichte geschrieben: Konzerte in voller Länge mit Stereoton im Radio.

Von 1976 bis 1986 trafen sich The Kinks, The Who, Grateful Dead, und viele Rocknachtüberraschungen mehr. Rockkultur pur!

Im Essener Süden angelangt, im Stadtteil Bredeney, sind andere Herrschaften zu Hause als im immer noch als schmuddelig angesehenen Essener Norden. Der Süden ist die bessere Ecke. Damals für die Krupps, heute für die Aldis. Hier werden italienische Schuhe von einer Italienerin verkauft, die hat ihre spanische Freundin zu Gast. Im Schuhgeschäft geht es weniger ums Schuheverkaufen, eher um Kommunikation. Dolce Vita an der Ruhr! Draußen geht die Großmutter aus den Vereinigten Staaten mit dem deutschen Enkel einkaufen. Kulturhighlights in Bredeney sind die Ausstellungen im ehemaligen Stammsitz der Industriellen-Dynastie Krupp:

"Der Name Krupp is ..., weiß jeder und die Ausstellung sind ziemlich schön also ich hab mehrere Ausstellung gesehen, also... Ausstellung Villa Hügel, alles interessant...alles. Krupp war der Gründer von der ganzen Villa Hügel, ne? Das gehört ganz einfach zu Essen, dass man die Villa Hügel besucht. Ich kann mich an viele erinnern – die Bilderausstellung, ja die Bilder. Ich wohne in Essen, meine Tochter wohnt hier, wir gehen mal da spazieren und das Museum, ich finde das sehr schön, wirklich ein Gewinn. Toll ganz toll, wird auch gut besucht. Eine ganz große Bedeutung: Früher war fast jeder zweite Essener bei Krupp beschäftigt. "

Die Villa Hügel liegt im Hügel Park und der wiederum ist umgeben vom Kruppwald. Die Krupps wollten ihre Ruhe haben, wenn deutsche Kaiser und andere rüstungsvernarrte Potentaten in Essen ihre Kanonen und jegliches andere Kriegsgerät für zwei Weltkriege bestellten.

Zu Fuß von der fürs Volk bestimmten Straßenbahn sind es 20 Minuten – ideal zum Luftholen vor der letzten Etappe der Kulturstraßenbahn-Reise. Und dann steht es da: das größte Einfamilienhaus des Deutschen Reiches mit 269 Zimmern. Weit ab vom Ruß und Gestank der Kruppschen Industrienanlagen im Westen Essens, Hier lebten die Krupps von 1873 bis 1945 auf den Ruhrhöhen. Ein wahrer Tempel des Kapitals. Heute Museum, Ausstellungsort und Konzerthaus. Auch der Park rundherum ist demokratisiert, fürs Volk da: Kultur und Sport.

"Sehr gut war Dresden, sehr gut war China, die vorletzte war über Paris und die letzte war wohl die schwächste, vielleicht ... waren Blumenstillleben. "

An den Ufern der Ruhr, dort wo vor zwei Jahrhunderten die erste Kohle entdeckt wurde, endet der Kulturstreifzug quer durch Essen. Von der Villa Hügel geht es zu Fuß abwärts Richtung Baldeney-See. Das ist ein beliebtes Segel- und Wassersportrevier. Alles grün und sauber, von Industrie keine Spur – Realitäten schaffen sich selber, erlauben den Sprung von einer Wirklichkeit in eine andere. das Ruhrgebiet hat alles! Neues – Altes, Aufbruch – Abbruch, schwarze und weiße Energie, Zukunft und Vergangenheit: Kultur! Die wächst bekanntlich und wie überall von unten oder besser gesagt von unter Tage. Glückauf!