Kulturhauptstadt 2025

Chemnitz strebt Imagewechsel an

Das Motto der Kulturhauptstadt Chemnitz 2025 "C The Unseen" in Leuchtbuchstaben
Nach jahrelangen Vorbereitungen ist Chemnitz Kulturhauptstadt und wird ab dem 18. Januar im eigens eingerichteten Besuchs- und Informationszentrum begrüßen © picture alliance / dpa / Hendrik Schmidt
Von Michael Köhler |
Das sächsische Chemnitz ist 2025 Kulturhauptstadt Europas. Mit den zahlreichen Projekten und Veranstaltungen unter dem Motto "C the Unseen" ist auch die Hoffnung verknüpft, aus dem Schatten von Dresden und Leipzig zu treten. Kann ein Imagewechsel gelingen?
Zusammen mit der Doppelstadt Nova Gorica / Gorizia an der slowenisch-italienischen Grenze ist Chemnitz Kulturhauptstadt Europas 2025. Sie ist die vierte deutsche Stadt nach Berlin 1988, Weimar 1999 und Ruhr 2010, die den von der EU vergebenen Titel erhält. Zur Kulturhauptstadt Chemnitz zählen dabei nicht nur ihre 38 Kommunen, sondern auch die Landkreise Mittelsachsen, Zwickau und Erzgebirge.
Seitlicher Blick auf das Karl-Marx-Monument in der Innenstadt vor blauem Nachthimmel
Am 18. Januar läutet Chemnitz - zu DDR-Zeiten Karl-Marx-Stadt - mit einem großen Fest das Jahr als Kulturhauptstadt Europas ein. Dazu werden etwa 80.000 Besucher in der Innenstadt erwartet. © picture alliance / dpa / Hendrik Schmidt

„C the Unseen“ – was ist der Leitgedanke der Kulturhauptstadt Chemnitz?

Am 18. Januar geht es am „Karl Marx Monument“, dem heimlichen Wahrzeichen der Stadt, los. Chemnitz wurde wegen seiner Industriegeschichte auch das „Manchester des Ostens“ genannt. Weil sie für Maschinen- und Lokomotiv-Bau berühmt war, wird beim Eröffnungsevent eine historische Hartmann-Lok von 200 Menschen durch die Stadt gezogen. Das soll „Anpacken“ und „Mitziehen“ symbolisieren.
Das Motto des Kulturhauptstadtjahres lautet „C the Unseen“ – ein kleines Wortspiel. Denn „C“ ist der Buchstabe für das Autokennzeichen von Chemnitz und englisch ausgesprochen heißt der Slogan so viel wie „Entdecke die ungesehenen Seiten der Stadt“ oder „nimm es anders wahr“. Auch die örtliche Wirtschaft und die Industrie- und Handelskammer (IHK) verbinden damit den Wunsch, anders gesehen zu werden, die Aufmerksamkeit für die Region zu erhöhen.
Und die hat einiges zu bieten: die bürgerlich-kulturelle Tradition mit Kunstsammlung, Theater und Oper sowie Gründerzeithäusern, Jugendstilfassaden und frei stehende Villen von kunstsinnigen Fabrikanten. Das Besuchs- und Informationszentrum der Kulturhauptstadt „Chemnitz 2025“ wiederum ist in der ehemaligen Hartmann-Lok-Fabrik untergebracht.
Zugleich gibt es Plattenbauten oder den "Lern- und Gedenkort Kaßberg-Gefängnis". Letzteres diente zu DDR-Zeiten als Untersuchungshaftanstalt der Staatssicherheit (Stasi) und Abwicklungsort, an dem politische Häftlinge an die BRD gegen West-Devisen „verkauft“ wurden.
Blick auf einen nahezu im Orignal erhaltenen Plattenbau in Chemnitz mit elf Etagen
Ein nahezu im Original erhaltener Plattenbau im Heckert-Gebiet in der ostdeutschen Stadt Chemnitz: Zu Hochzeiten lebten in dem Plattenbaugebiet 92.000 Menschen© picture alliance / dpa / Hendrik Schmidt
Stefan Schmidtke, der künstlerische Programmdirektor der Kulturhauptstadt, betont, dass Chemnitz viel weniger Hochkulturanteile als andere, vormalige Kulturhauptstädte haben wird. Ihm ist die Soziokultur wichtig. Dazu zählt auch das Projekt "3.000 Garagen" . Die selbst errichteten Garagen in Chemnitz waren für Trabant und Wartburg, die in der DDR produzierten Pkw, auf die DDR-Bürger lange warten musste. Doch sie bedeuteten ein Stück Beweglichkeit und Freiheit.
Stefan Schmidtke, Geschäftsführer der Kulturhauptstadt GmbH, im Porträt
Stefan Schmidtke ist für das Programm der Kulturhauptstadt Europas 2025 verantwortlich© picture alliance / dpa / Hendrik Schmidt

"Der Witz dieser Kulturhauptstadt besteht darin, dass der Hochkultur-Anteil sehr gering ist, und dass die meisten Aktivitäten - ich würde sagen, fast 80 Prozent - im soziokulturellen Bereich sind, die sich mit zivilgesellschaftlichem Engagement, mit der Partnerschaft in Tschechien und Polen beschäftigen, mit Singvereinen, mit der Freiwilligen Feuerwehr. All das hat einen viel größeren Stellenwert in diesem Kulturhauptstadtjahr. Hochkultur gibt´s viel weniger als üblicherweise."

Stefan Schmidtke, Geschäftsführer der Kulturhauptstadt Europas Chemnitz 2025 GmbH

Die Garagen waren aber auch Treffpunkt für Bastler und Nachbarschaft. In diesem Jahr werden 3.000 von ihnen geöffnet und zum Teil noch originalverpackte Ersatzteile ausgestellt. Unter anderem Dachgepäckträger und Bremsflüssigkeit kommen dann zum Vorschein und mit ihnen die vielen Geschichten der spezifischen Ost-Identität - ein „lebendiges Archiv“.
Ein ganz anderes Projekt im Rahmen der Kulturhauptstadt ist der Kunstweg „Purple Path“. Er erstreckt sich über 400 Kilometer durchs Erzgebirge und soll die Region anhand neuer Kunstwerke nicht nur für Touristen anders erfahrbar machen.
Eine Skulptur aus brunen Stäben ragt über einer grünen Wiese in den blauen Himmel
Auf dem Kunst- und Skulpturenweg „Purple Path“ werden Arbeiten von renommierten internationalen, nationalen sowie sächsischen Künstlern und Künstlerinnen gezeigt© Imago / Wolfgang Schmidt
Teil der Stadthistorie sind aber auch die rechtsradikalen Ausschreitungen von 2018, nachdem am Rande eines Stadtfestes ein Mann durch Messerstiche getötet worden war. Programmdirektor Schmidtke will mit diesem dunklen Kapitel der neueren Geschichte offensiv umgehen. Es gebe ein „Pilotzentrum für die Dokumentation des NSU-Terrors“.
Ein anderes Bild möchte die IHK zeichnen. Von ihr ist zu hören, dass Chemnitz industrielles Wachstum habe. Gleichwohl hat die Stadt nach der Wende circa 50.000 Bürgerinnen und Bürger verloren. Heute ist sie Heimat von etwas mehr als 250.000 Einwohnern.

Wie hat sich das Konzept der Kulturhauptstädte über die Zeit gewandelt?

Seit 40 Jahren gibt es jetzt die Kulturhauptstädte Europas. Die ursprüngliche Idee geht auf die Schauspielerin und ehemalige griechische Kulturministerin Melina Mercouri zurück. Sie fasste 1985 mit ihrem französischen Kollegen Jack Lang den Entschluss, die Idee Europas nicht auf die EU als politische und wirtschaftliche Staatengemeinschaft zu beschränken, sondern die Idee eines grenzüberschreitenden, friedlichen Europas in seinen Städten erfahrbar zu machen.
Europa sei eine Kultur- und Wertegemeinschaft, die in den teils sehr alten Städten am besten zur Geltung komme. Seitdem vergibt die EU den Titel Europäische Kulturhauptstadt. Die Vergabepraxis für das Jahr 2025 wurde von den unterlegenen deutschen Städten Hannover und Nürnberg indes kritisiert: Es habe im Fall Chemnitz eine zu große Nähe zwischen Beratern und Jury gegeben.
Seit 2004 sind nicht mehr einzelne Städte, sondern häufig kleinere Städte mit regionalem Umfeld Träger des Titels. Meist sind es zwei Städte mit ihren Großräumen. Dabei steht nicht der Import großer Namen des internationalen Kunstbetriebs im Fokus, sondern lokale Aktivitäten finden Zuspruch und werden aufgegriffen. Sie sind ein Identitätsangebot.

Welche Auswirkungen kann der Titel Kulturhauptstadt Europas haben?

Wenn Stadt-, Kultur- und Entwicklungspolitik ineinandergreifen, kann gelingen, was die Kulturberater gern „mental Change“ nennen: Eine Region verliert ihr altes, unter Umständen schlechtes Image und erneuert, wandelt sich, entwickelt Zukunftsperspektiven. Darauf legt die EU wert. Als gelungene Beispiele dafür, was der Titel Kulturhauptstadt Europas bewirken kann, gelten die englische Hafenstadt Liverpool, Matera in Italien und auch das Ruhrgebiet.
Die süditalienische Stadt Matera war arm und vergessen. Als sie 2019 europäische Kulturhauptstadt wurde, änderte sich viel und nachhaltig. Auf 60.000 Einwohner kamen in einem Jahr 1,2 Millionen Besucher. Danach verflog der Zauber nicht. Durch die Ansiedlung von Forschungseinrichtungen entstanden qualifizierte Arbeitsplätze und die Stadt erfuhr eine grundlegende Erneuerung.
Blick über die süditalienische Stadt Matera bei Dämmerung
Die süditalienische Stadt Matera war 2019 Kulturhauptstadt Europas und konnte von diesem Titel nachhaltig profitieren © IMAGO / imagebroker / elxeneize
Liverpool hat 2008 seinen Hafen zur Stadt hin erschlossen. Die Heimat der Beatles und des traditionsreichen Fußballklubs FC Liverpool ist heute eine der meist besuchten Städte Englands, die Tate Gallery zieht Hunderttausende an. Der Titel verpuffte also nicht, er bewirkte positive Veränderung. Ähnlich machte es das friesische Leeuwarden 2018. Die beschauliche Stadt in den Niederlanden setzte alle und alles in Bewegung. Sie war Mittelpunkt einer regionalen Aktion. Die Bevölkerung wurde beflügelt und mitgenommen.
Bei Ruhr 2010 war die gesperrte Autobahn ein riesiges Ereignis, von dem noch heute gesprochen wird. Fußgänger bevölkerten die Fahrbahn. Die A40 wurde zum „Still-Leben-Ruhrschnellweg“, einem Sinnbild für den Strukturwandel der Metropolregion. Von der „Schwarzen Lunge“ zur „grünen Region“.
Auf der A40 sind Bierbänke, Fußgänger und Radfahrer bei Sonnenschein zu sehen
2010 fand auf der Autobahn A40 zwischen Duisburg und Dortmund die Aktion „Still-Leben“ der Kulturhauptstadt Ruhr 2020 statt© IMAGO / Funke Foto Services / ChristophxWojtyczka

Wie wird eine Kulturhauptstadt Europas zum Erfolg?

Der Titel einer Kulturhauptstadt kann zur Stadterneuerung und zum Strukturwandel beitragen. Tourismus, Investitionen, Gewerbe-Ansiedlung, sozialer Ausgleich, kulturelle Teilhabe und europäische Integration können gelingen, wenn der nötige politische Wille und das Bekenntnis zu nachhaltiger Kultur vorhanden sind.
Gleichwohl: Eine Garantie dafür gibt es nicht und auch keinen Königsweg für Erfolg. Ein Kulturhauptstadtjahr kann auch ein schöner Sturm im Wasserglas sein, oder konfliktträchtig verlaufen. In Weimar gab es 1999 Konflikte zwischen Machern und Bevölkerung, weil sich die vom anspruchsvollen Programm überfahren fühlte.
Für den Erfolg muss daher vieles zusammenkommen: Eine bereits bestehende kulturelle Infrastruktur, ein Bottom-Up-Prinzip, das die lokalen Akteure mitnimmt, eine europäische Idee, ein nachhaltiges Konzept, der kulturpolitische Wille, langfristig zu finanzieren und zu unterhalten, ein Magnet für ausländische Touristen und natürlich politische Rückendeckung und ein Konzept für dauerhafte nachhaltige Nachnutzung.
Titel und Traum müssen zusammenpassen. Dann kann Kultur ein Motor der Demokratie und der Integration im europäischen Sinne sein. Eines hat sich mit den Jahren klar abgezeichnet: Der Wandel darf nicht von oben verordnet werden, er muss von unten wachsen. Daran will Programmdirektor Schmidtke anknüpfen. Sein Lieblingssatz lautet: „Es sind die Chemnitzerinnen und Chemnitzer, die die Kulturhauptstadt sind.“
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