Thomas Franke: "Georgien ist ein faszinierendes Land. Das Essen ist gut, die Leute sind nett und die Landschaft spannend, exotisch aber irgendwie auch europäisch. Ein Teil der Leute orientiert sich längst an den USA oder der EU. Andere können mit den Umbrüchen überhaupt nichts anfangen. Das führt zu Spannungen. Ich wollte unbedingt etwas über diese Gegensätze und ihre Folgen machen."
Der Ritter im Tigerfell hat ausgedient
In Georgiens Hauptstadt Tiflis haben junge Leute kürzlich ein veganes Restaurant eröffnet. Eine Unverschämtheit, fanden Traditionalisten und bewarfen die Besitzer mit Wurst. Das Lokal musste umziehen. Ein Beispiel von vielen, das zeigt, wie das kleine Land hin- und hergerissen ist zwischen Tradition und Moderne.
Junge Leute orientieren sich an den Trends westlicher Länder, sprechen mehrere Sprachen, engagieren sich. Andere feinden sie dafür an, lehnen alles ab, was nicht den Klischees der georgischen Tradition entspricht – dem sprichwörtlichen Ritter im Tigerfell. Ihnen zufolge ist Georgien christlich-orthodox, und Männer haben das Sagen. Frauen gelten wenig, Armut und soziale Not verstärken die konservativen Trends. Manchmal prallen die Gegensätze derart aufeinander, dass es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kommt.
2013 überfiel ein Mob eine friedliche Kundgebung von Schwulen und Lesben und ihren Freunden. Etwa 150 Demonstranten standen 20.000 - 30.000 von der Kirche aufgehetzten Fanatikern gegenüber, angeführt von einer Reihe Priester: bärtig, in vollem schwarzen Ornat, auf der Brust dicke Kruzifixe. Bestraft wurde bis heute niemand für das Pogrom, obwohl es ein Dutzend Verletzte gab.
Einerseits - andererseits
Typisch Georgien - einerseits. Die Hetze gegen Bürger, die einen anderen als den traditionellen Lebensstil pflegen, ist salonfähig.
Andererseits: Georgien möchte Mitglied in der EU werden. Und kommt voran. Unter den östlichen Nichtmitgliedern ist das Land der Musterkandidat mit einer florierenden Zivilgesellschaft und dem Streben, Menschenrechte einzuhalten und Männer und Frauen gleich zu behandeln. Seit kurzem können Georgier ohne Visum in die EU reisen.
Der Konflikt zieht sich durch die Familien. Traditionell hat die Familie einen sehr hohen Stellenwert in Georgien. Die Elterngeneration spricht oft Russisch, ist geprägt durch die Sowjetunion und den Glauben, sowieso nichts verändern zu können. Viele Menschen hängen in den Dörfern fest, und da passiert nichts. Junge Leute in der Stadt hingegen suchen den Anschluss an Westeuropa und die USA, sie entfremden sich in rasanter Geschwindigkeit vom Leben in den Dörfern, wo die Menschen sich noch mit eigenem Brunnen, Kühen, Schafen, Gänsen selbst versorgen.
Gewalt ist alltäglich in Georgien, gerade innerhalb der Familie. In größeren Städten nehmen sich Frauenzentren der Opfer an. Vor allem die Kinder sollen anders aufwachsen als ihre Eltern, nämlich gewaltfrei. Aber die Armut lässt diese Entwicklung kaum zu. In Slums wie der "Stadt der Träume" ist die häusliche Gewalt besonders verbreitet, weil es an allem fehlt und die Wohnbedingungen miserabel sind. Trotzdem sind viele Familien froh, dort unterzukommen, weil sie durch Krieg oder Naturkatastrophen vertrieben wurden.
Trost und Kraft aus alten Traditionen
Unter den Umständen ziehen viele Menschen in Georgien Trost und Kraft aus den altbekannten Traditionen: der Religion, der Erinnerung an große Zeiten mit Rittern im Tigerfell und der traditionellen Familie, in der der Mann das Sagen hat und die Frau kuscht.
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