Kulturkampf zwischen Armenien und Aserbaidschan

Wer hat die älteren Rechte im Kaukasus?

34:38 Minuten
Blick auf die Stadt Schuscha in Bergkarabach im Oktober 2020, die sowohl für Armenier als auch Aserbaidschaner wichtig ist.
Bergkarabach im Oktober 2020: Blick auf die Stadt Schuscha, die sowohl für Armenier als auch Aserbaidschaner wichtig ist. © imago / Itar Tass / Stanislav Krasilnikov
Von Florian Guckelsberger und Manuel Daubenberger |
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Der Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan im letzten Jahr ist nur eine weitere Episode in einer Reihe gewalttätiger Auseinandersetzungen gewesen. Von Historikern und Archäologen wird der Konflikt angeheizt, der fast nur noch Verlierer kennt.
Vor dem Tor des Klosters Amaras liegt seit dem Krieg ein anderes Land. Wo zuvor Armenier lebten, patrouillieren nun Soldaten aus Aserbaidschan. Es ist Ende November 2020 und wir sind auf dem Weg zum Kloster und damit an die Front; wollen verstehen, was Soldaten und Zivilisten in diesem Krieg erlebt haben. Und so schaukelt unser weißer Geländewagen die letzten Meter der Straße zum Kloster hinab.
Derart dicht verläuft die Front entlang der Klostermauern, dass die Bewohner einer nahen Stadt unsicher waren, ob sie uns, die beiden Journalisten aus Deutschland, guten Gewissens dorthin schicken können. Wird der erst vor wenigen Tagen vereinbarte Waffenstillstand halten? Werden die Soldaten schießen? Ist das Kloster vermint?

44 Tage Krieg liegen hinter den Menschen in Bergkarabach, einer gebirgigen Region im Herzen des Kaukasus. Das Land von der Größe Mallorcas wird von Armenien und Aserbaidschan beansprucht. Die jüngste Eskalation in diesem seit drei Jahrzehnten andauerndem Konflikt hat erneut Tausende Leben gekostet. Anfang November 2020 endet der Krieg mit dem Sieg Aserbaidschans und dem von Russland vermittelten Waffenstillstand.
Noch bevor wir aus dem Auto aussteigen, erspähen wir die aserbaidschanischen Soldaten auf den umliegenden Hügeln. Eigentlich wird nicht mehr gekämpft, aber ein mulmiges Gefühl bleibt. Die Fenster der Wohnräume des Klosters sind mit Stofftüchern verhängt. Die hier zur Verteidigung des Klosters stationierten armenischen Soldaten hatten sie wohl aufgehängt, um nicht von Scharfschützen ins Visier genommen zu werden.
"Ich möchte nicht über den Krieg sprechen. Jeder Krieg ist schlimm und dieser Krieg war schlimm für uns."

Schwer stützt sich Karlen Nasaryan auf seinen schwarzen Gehstock. Wir haben Nasaryan im Inneren des ansonsten verlassenen Klosters getroffen. Gemeinsam mit vier Freunden ist er nach Amaras gekommen, um Kerzen zu entzünden.
"Kirchen sind wichtig für uns – und jetzt, wo dieses Kloster so nah an der Front liegt, ist es umso bedeutsamer. Amaras braucht Aufmerksamkeit und Pflege. Die Kerzen auf dem Altar einer armenischen Kirche dürfen niemals erlöschen.
Nasaryan arbeitet als Wirtschaftswissenschaftler in Moskau. Als der jüngste Krieg um Bergkarabach Ende September letzten Jahres beginnt, steigt er in den Flieger und kehrt heim. Als Christ, wie fast alle Armenier, sorgt er sich vor allem um die Zukunft des Klosters.
"Es ist ein großer Schmerz für uns, denn die armenischen Kirchen sind wichtig für unseren Glauben. Und es war doch stets der Glauben, der unser Volk am Leben gehalten hat. Wenn wir die Kirchen verlieren, verlieren wir die nächste Generation. Als Kind hat mir mein Vater von Amaras erzählt und ich fragte: Können wir dorthin? Und er sagte, das sei möglich. Wenn mein Kind fragt, ob es die Kathedrale von Schuschi sehen kann, muss ich meinen Kopf in Schande beugen, denn sie gehört uns nicht mehr."
Ein Mann steht im Dezember 2020 vor dem Klosters Amaras.
Das Klosters Amara im Dezember 2020: "Die armenischen Kirchen sind wichtig für unseren Glauben."© imago / Itar-Tass

Armeniens dunkelste Stunde

161 Klöster und Kirchen und nahezu 600 Kreuzsteine liegen laut der armenischen Verwaltung Bergkarabachs in den von Aserbaidschan eroberten Gebieten. Insgesamt zählt der Ombudsmann für Menschenrechte 1456 bedrohte Monumente armenischen Ursprungs. Darunter auch die Kathedrale, von der Karlen Nasaryan spricht.
Für Armenien ist es die dunkelste Stunde. Als der Waffenstillstand die jüngste Eskalation des Konflikts vorläufig beendet, kontrolliert Aserbaidschan bereits weite Teile im Süden und Osten Bergkarabachs. Darunter auch Schuscha mitsamt der armenischen Kathedrale. Der hochgerüsteten Armee Bakus hatten die Armenier nichts entgegenzusetzen und so konnte Aserbaidschan die Bedingungen für das Einstellen der Kampfhandlungen diktieren.
Für Aserbaidschan ist es der seit Jahrzehnten erhoffte Sieg, die Rückeroberung. Bergkarabach ist ein Teil seines Staatsgebiets und war mitsamt angrenzender Gebiete seit dem Krieg Anfang der 1990er-Jahre von Armenien besetzt gewesen. Zehntausende Aserbaidschaner starben damals. Mehr als eine Million Menschen flüchteten aus den nun vom Feind kontrollierten Regionen und vor Bakus Toren entstanden Zeltstädte.
Nach unserem Besuch in Amaras wollen wir verstehen, welche Rolle Kirchen und Moscheen im Konflikt zwischen dem christlichen Armenien und dem muslimischen Aserbaidschan spielen. Wir recherchieren weiter und hören von einem wichtigen Ort, der sich in einem unscheinbaren Hinterhof im Süden der armenischen Hauptstadt Jerewan befinden soll. Dort werden wir lernen, mit Religion hat der Streit um die Gotteshäuser nur am Rande zu tun.

Im Kloster Amaras haben wir von der Sorge der Armenier um ihr kulturelles Erbe erfahren. Hier, in diesem von Wohnblocks umschlossenen Hinterhof der armenischen Hauptstadt, beginnt unsere Suche nach dem, was Aserbaidschaner durchlitten haben. Vor 30 Jahren, am 21. Januar 1990, wurde hier eine Moschee angezündet. Es heißt, die Polizei habe versucht, den Mob zu stoppen. Doch am Morgen der Brandnacht hat der Bulldozer nur noch die Trümmer der Hadji-Jafar-Bek-Moschee wegschaffen können.
"Es war eine sehr alte Moschee, die teilweise mit Lehm verkleidet war, sie hatte so ein rundes Element oben drauf. Daran erinnere ich mich noch."
Wir müssen nicht lange warten, bis eine Bewohnerin aus einem der vielen Hauseingänge tritt. Julia ist 65 und scheint auf dem Weg zum Markt. Sie lebt seit Jahrzehnten in der Varadanats Straße 22 und erinnert sich gut an die Nacht, in der die Moschee brannte.
"Als die Proteste bei der Oper begannen und die Menschen für Bergkarabach auf die Straße gingen, flohen die Muslime, die hier zuvor gelebt hatten. Sie gingen fort. Als das Chaos begann, kam es zu dem Vorfall bei der Moschee."
Mit dem stetig eskalierenden Konflikt Ende der 1980er-Jahre beginnen die Vertreibungen. Im Laufe der Jahre sind es Hunderttausende Aserbaidschaner, die aus den von Armenien dominierten Gebieten fliehen und Hunderttausende Armenier, die Baku und andere Städte hinter sich lassen. Für Julia folgt die Zerstörung der Moschee in Jerewan einer nahezu alttestamentarischen Logik.
"Es waren die Bewohner von hier, die es taten. Die Jungs … sie hatte da diese Idee. Ich denke, sie haben das Richtige getan. Der Feind zerstört unsere Denkmäler und Kirchen und auch Friedhöfe. Was sie taten, war also gut so."
Eine Moschee wird angezündet, Menschen fliehen. Doch der Plauderton der 65-Jährigen lässt die Brandstiftung ihrer Nachbarn wie einen Kinderstreich klingen. Als sie schon weitergegangen ist, fragen wir unseren Übersetzer, ob er sich nicht doch verhört habe. Er schüttelt den Kopf.
Blick auf den Ararat von der armenischen Hauptstadt Jerewan.
Blick auf den Ararat von der armenischen Hauptstadt Jerewan im Januar 2021.© imago / age fotostock / Walter Bibikow

Ein Krieg der Archäologen und Historiker

"In diesem Konflikt geht es nicht nur um aktuelle Politik, sondern auch um Identität. Es geht um die Vergangenheit. Es geht um Zugehörigkeit. Es geht um Loyalitäten."
Das ist der britische Journalist Thomas De Waal, einer der profiliertesten Kenner der Region. Sein Buch "Black Garden" avancierte in den letzten zwei Jahrzehnten zum Standardwerk für jene, die den Konflikt um Bergkarabach verstehen wollen. Als wir mit ihm über die Angst der Armenier um ihre Kirchen und Klöster und die niedergebrannte Moschee sprechen, erzählt er uns von einem Krieg hinter dem Krieg. Der nicht von Soldaten und Generälen, sondern Archäologen und Historikern geführt wird.
"Jede Seite des Konflikts kämpft nicht nur für die Gegenwart, sondern auch um die Vergangenheit. Darum, wer hier zuerst war, von wem die historischen Bauten errichtet wurden. In diesem Ringen geht es um mehr als Politik. Es ist ein Kampf zwischen Intellektuellen, Historikern und Archäologen. Ein totalitärer Kampf nicht nur um die Gegenwart, sondern auch die Vergangenheit."
Eine Vergangenheit, die im Kaukasus ohnehin komplex ist. Eingefasst zwischen dem Schwarzen Meer im Westen und dem Kaspischen Meer im Osten ist der Kaukasus eine Nahtstelle von Europa und Asien – und Hinterhof der großen Imperien. Heute wird die Region dominiert von Russland im Norden, der Türkei im Westen und Iran im Süden. Gleichsam den Erben der Sowjetunion, des Osmanischen Reichs und Persiens. Die vielfältigen Einflüsse dieser Großreiche und ihr Ringen um die Vorherrschaft machen den Kaukasus seit jeher zu einem ethnischen Flickenteppich.

In Bergkarabach leben Anfang des 20. Jahrhundert vor allem ethnische Armenier, die sich das Land aber mit einer signifikanten aserbaidschanischen Minderheit teilen. Den einen gilt Bergkarabach mit seinen Kirchen und Klöstern als Teil der Identität, den anderen vor allem die Stadt Schuscha als Ursprung der eigenen Kultur. Und so beginnt das Ringen um die Kontrolle über Bergkarabach direkt nach der Oktoberrevolution 1917, als beide Länder kurzzeitig unabhängig werden.
Es ist ein Konflikt, der durch die Eingliederung Armeniens und Aserbaidschans in die Sowjetunion kurz darauf nur eingefroren, aber nicht gelöst wird. Der "schwarze Garten" wird von Moskau der aserbaidschanischen SSR zugeschlagen und ist deshalb bis heute ein Teil von Bakus Staatsgebiet. Ein Umstand, mit dem sich die dort lebenden Armenier von Anfang an nicht abfinden wollen.
Als am 20. Februar 1988 der regionale Sowjet den Anschluss an die armenische SSR verlangt, eskaliert die Situation. Moskaus schwindender Einfluss in der Region kann nicht verhindern, dass der Konflikt mit dem Kollaps der UdSSR in ein offenes Schlachten mündet. Bis Armenien 1994 den Krieg für sich entscheidet und Bergkarabach sowie umliegende Gebiete besetzt, sind Zehntausende gestorben und mehr als eine Million Menschen vertrieben.
Muharram-Prozession in Schuscha. Festlich gekleidete Menschen mit langen Säbeln in der Hand prozessieren durch eine alte Stadt.
Muslimische Muharram-Prozession in Schuscha. Grafik um 1865 von Wassili W. Werestschagin, Moskau, Staatliche Tretjakow-Galerie.© picture alliance/ dpa /akg-images

Die Idylle trügt

Stünden da nicht russische Radpanzer, das Motiv könnte eine Postkarte entsprungen sein. Auf halber Höhe am Berg gelegen, überblickt Dadiwank ein tief eingeschnittenes Tal im Herzen des Kaukasus, Stolz streckt das Kloster seine Kreuz-besetzten Kuppeln und Türme in den blassgrauen Himmel. Doch mit jedem Schritt die Zufahrtsstraße hinauf wird deutlicher, dass hier etwas nicht stimmt.
Im Klosterhof treffen wir den völlig erschöpften Movses Sargsjan. Schwer hängt das eiserne Kreuz der Armenisch Apostolischen Kirche an seinem Hals. Als Kriegsseelsorger hat der Pater den Krieg an der Front verbracht: den Soldaten gepredigt, Weihwasser in Stahlhelme gefüllt und die Männer vor der Schlacht noch getauft. Vergebens.
"Dadiwank ist eines der ältesten Klöster Armeniens und ein berühmter Pilgerort. Wie Sie sehen, kommen viele Besucher zum Gebet. Sie besuchen das Kloster, weil es für uns von großer Bedeutung ist. Aber interessiert sich die Welt wirklich für diese Kirche? Das ist die Frage. Ich weiß nicht, ob sie sich wirklich interessiert. Wer es ist, dem empfehle ich, seine Geschichte zu erforschen. Dieses Land gehört Armenien seit Jahrhunderten. Wir leben hier seit Tausenden Jahren."
Aus der Klosterkapelle hinter Sargsjan sehen wir Männer und Frauen, die mit geröteten Augen ins Freie treten. Sie fotografieren die alten Steine, ihre Freunde und sich selbst. Ihre Aufnahmen zeigen die ernsten Gesichter von Menschen, die Abschied nehmen.
Morgen wird der Verwaltungsbezirk Kəlbəcər an Aserbaidschan übergeben. So sieht es der Waffenstillstand vor. Was mit Dadiwank geschieht, weiß niemand. Werden die russischen Soldaten Wort halten und das Kloster beschützen? Und was, wenn nicht? Thomas de Waal erklärt, warum viele Armenier um ihre Klöster bangen.
"Überall in der Region finden sich historische armenische Inschriften – auf Kirchen und Kreuzsteinen, den Chatschkar. Da hatten einige aserbaidschanische Historiker den bemerkenswerten Einfall, dass alle armenischen Monumente die älter als das 19. Jahrhundert sind, nicht armenisch wären – sondern kaukasisch-albanisch. Eine Bezugnahme auf ein christliches Volk, das einst auf dem heutigen Staatsgebiet Aserbaidschans lebte und das es im Grunde seit dem 6. Jahrhundert nicht mehr gibt und von dem auch kaum etwas geblieben ist. Das Gebiet wird faktisch ent-armenisiert."

Jede Seite hat ihre historische Deutung

Für Armenier wie Pater Movses Sargsjan oder auch Karlen Nasaryan aus dem Kloster Amaras steht die kulturelle Identität ihres Volks auf dem Spiel. Sie fürchten, dass Klöstern und Kirchen unter der Kontrolle Aserbaidschans die Zerstörung droht.
Doch de Waal weiß, dass das nur die eine Seite der Medaille ist. Einer Konfliktdialektik folgend haben armenische Historiker eine vergleichbar eigenwillige Perspektive auf das verfeindete Aserbaidschan entwickelt und in der Bevölkerung populär gemacht.
"Wenn Sie bestimmte von Armeniern geschriebene Geschichtsbücher über Aserbaidschan lesen, dann gibt es diesen wirklich bemerkenswerten Effekt: Sie können das ganze Buch lesen und glauben, es würde Aserbaidschan nicht wirklich geben. Das Land sei eine Erfindung des 20. Jahrhunderts und jeder, der vorher dort gelebt habe, sei ein turkstämmiger Nomade. So wird ein wichtiger historischer Abschnitt in Gänze geleugnet."
Wir verlassen Dadiwank nachdenklich. Wie genau unterscheidet sich denn die Angst der Armenier vor dem, was auf die Übergabe der Provinz folgt, von dem, was die Aserbaidschaner hier Anfang der 1990er-Jahre erleben mussten? Und was ist das bloß für ein Konflikt, in dem beide Seiten einander nicht nur Land und damit einen Platz in der Gegenwart absprechen – sondern gleich die gesamte Geschichte und damit auch die Vergangenheit?

Wir sind auf dem Weg zu einer Stadt, die wie alle Orte in Bergkarabach zwei Namen trägt. Schuschi, nennen sie Armenier. Schuscha die Aserbaidschaner. Beiden Seiten gilt sie als Kronjuwel. Hoch auf dem Berg überblickt die historische Festung der Kleinstadt die umliegenden Täler. Mit Mühe schiebt sich unser Geländewagen die Straße hinauf, die während des Kriegs mit Leichen bedeckt war.
Trotz der technischen Überlegenheit hat die aserbaidschanische Armee einen hohen Blutzoll entrichtet, bevor sie die Stadt schließlich eroberte. Zu tief hatten sich die Armenier seit ihrer Eroberung Anfang der 1990er-Jahre eingegraben. Wir halten am Straßenrand und schauen uns um. Granatsplitter, zerschossene Helme und steif gefrorene Armeejacken am Straßenrand künden vom Elend des Kriegs.
Daneben finden wir ein Stück Papier, zur Hälfte mit geronnenem Blut bedeckt. Es ist ein Brief der Schülerin Lamiiya aus der aserbaidschanischen Stadt Gandscha. Sie hat ihn den Soldaten ihrer Heimat gewidmet.
"Hallo Soldat. Ich frage nicht, wie es dir ergeht. Denn ich bin mir sicher, dass es dir gut geht. Ein Soldat, der das Land verteidigt und sich dafür einsetzt, dem kann es auch nicht anders ergehen. Wir sind stolz auf euch alle."
Wir fahren weiter, doch der Weg hinein nach Schuscha bleibt uns verwehrt. Vor dem Ortseingang stehen russische Panzer und aserbaidschanische Soldaten. Deutlich können wir die Türme der Kathedrale ausmachen.
Am Ortseingang der Stadt Schuscha steht im November 2020 ein russischer Soldat.
Der Ortseingang der Stadt Schuscha wird im November 2020 von russischen Soldaten bewacht. © imago / Itar-Tass / Stanislav Krasilnikov

2019 fand noch ein Fußballturnier statt

Es ist ein vertrauter Anblick, denn im Sommer 2019 haben wir Bergkarabach schon einmal bereist. Die armenische Verwaltung hatte damals ein internationales Fußballturnier organisiert und Journalisten eingeladen.
In einem Video aus dem vergangenen Winter ertönt das erste Mal seit 1992 der islamische Gebetsruf über den Dächern Schuschas. Die aserbaidschanische Armee hat die Stadt zum Zeitpunkt der Aufnahme gerade zurückerobert. Die in dem Video zu sehenden Moscheen kennen wir, im Sommer 2019 haben wir sie bei unseren Streifzügen entdeckt. Es handelt sich um die untere und die obere Gowhar-Agha-Moschee. Beide gelten als Ausdruck türkisch-aserbaidschanischer Baukunst.
Der untere, etwas tiefer am Berg gelegene Bau war damals völlig überwuchert. Wir entdecken ihn überhaupt nur, weil die Minarette noch standen. Im Inneren fanden wir ein in die Säulen der Gebetshalle geschlagenes Kreuz, Schutt auf dem Boden und vereinzelt beschmierte Wände. Die Türme der zweiten Moschee, weiter oben gelegen, waren eingerüstet und wurden renoviert. Weniger Wochen nach unserem Besuch dort wird die Moschee unter Protest Aserbaidschans als Beispiel persischer Baukunst der Welt präsentiert.

Mit dem Ende des Krieges 1994 erlangt Armenien nicht nur die Kontrolle über Bergkarabach, sondern auch sieben umliegende Verwaltungsbezirke. Baku verliert auf einen Schlag rund 14 Prozent seines Staatsgebiets und muss die Versorgung Hunderttausender Geflüchteter sicherstellen. Doch nichts schien schwerer zu wiegen als der Verlust Schuschas. Die zuletzt überwiegend von Aserbaidschanern bewohnte Stadt ist der Geburtsort von Sängern und Poetinnen, gilt als Wiege der Kultur.
So wächst der Hass, auch weil immer mehr Details eines Massakers in der Stadt Chodschali aufgedeckt werden. In der Nacht vom 25. auf den 26. Februar 1992 fielen armenische Soldaten mit sowjetischer Unterstützung in den kleinen Ort ein und massakrierten Hunderte Aserbaidschaner, darunter Kinder. Spätere Aussagen des ehemaligen armenischen Präsidenten Sersch Sargsjan legen den Verdacht nahe, dass das Massaker ein geplantes Kriegsverbrechen war.
Mit einem Hubschrauber verlassen armenische Flüchtlinge am 3. März 1992 Stepanakert, die Hauptstadt von Berg-Karabach.
Am 3. März 1992 wurden armenische Flüchtlinge aus Stepanakert, die Hauptstadt von Berg-Karabach, evakuiert.© picture-alliance / dpa / epa

Die Geisterstadt Ağdam

Einige Tage nach unserer Spurensuche in Schuscha waren wir frühmorgens in ein Taxi gestiegen. Es war Juni 2019 und die Hitze des Tages kündigte sich bereits an. Unser Fahrer drehte das Autoradio auf, hatte die Fenster geöffnet und war guter Dinge. Er brachte seine Gäste nach Ağdam. Eine Geisterstadt in der von Armenien besetzten Pufferzone östlich von Bergkarabach.
30.000 Menschen lebten vor dem Krieg in Ağdam, die meisten von ihnen Aserbaidschaner. Jahrzehnte des Verfalls und der Plünderung haben die Stadt in eine Ruinenlandschaft verwandelt. Als wir nach Ağdam fuhren, verlief die Front zwischen Armenien und Aserbaidschan nicht weit von hier. Das Betreten der Stadt war ohne Genehmigung des Militärs verboten, was unserem Taxifahrer aber keine Sorgen zu bereiten schien.
Schon von Weitem sahen wir das letzte intakte Gebäude Ağdams, eine Moschee aus dem 19. Jahrhundert. Der Eingang war verdreckt, vor dem Gotteshaus wies eine zersplitterte Tafel den Bau als "persische Moschee" aus. Hoch oben vom Minarett aus haben wir dann einen Blick über das, was von Ağdam geblieben ist: ein Meer kaputter Steine, dazwischen grasende Kühe.

Posen des Sieges

Wie der Gebetsruf in Schuscha taucht auch die Moschee von Ağdam 2020 in den Videos triumphierender Aserbaidschaner auf. Sie zeigen, wie Soldaten die Vorhalle mit Besen reinigen und dann zum Gebet niederknien. Doch es soll nicht bei der Freude über die Rückeroberung der Moscheen von Ağdam und Schuscha bleiben. Schnell machen auch andere, hässliche Bilder die Runde im Internet. Sie zeigen eroberte armenische Friedhöfe, die geschändet werden.
Könnten die Toten doch nur sehen. Wir betreten den Soldatenfriedhof Jerablur am frühen Morgen und nur widerwillig lösen sich unsere Augen von dem im Licht der aufgehenden Sonne beschienenen Kuppen des Ararat.
Mütter, Töchter, Schwestern, Väter, Söhne und Brüder stehen vor den Gräbern junger Männer.
"Erinnerst du dich, was dieser Kaufmann aus Maraga, der oft hierher kam, um Gewürze Datteln, Kautabak, Ingwer und Zimt zu verkaufen, was der bei seinem letzten Besuch gesagt hat, vor dem Massaker an den Armeniern? ´Noch ist es nicht zu spät, verlasst diesen Ort`, sagt er. `Der Mensch kann nicht frei von Not leben, wo es so viele Friedhöfe gibt.`"
Diese Worte schrieb Akram Aylisli. Der aserbaidschanische Autor legte sie einer Figur seines Romans "Steinträume" in den Mund. Die Friedhöfe, Aylisli weiß um ihre Bedeutung für die Armenier. Aylisli wurde in der aserbaidschanischen Exklave Nachitschewan geboren. Nachdem Armenien im ersten Krieg Anfang der 1990er-Jahre Bergkarabach und umliegende Gebiete erobert hatte, rächten sich die Verlierer und zerstören Hunderte Kreuzsteine auf dem Friedhof von Culfa.
"Kein Mensch in Aylis, der damals durch Gewalt an den Armeniern seine Lebensbedingungen verbessern wollte, kennt bis heute Ruhe. So büßen die Kinder für die von den Eltern begangenen Sünden. Die Geister derer, die wir gequält haben, lassen uns nicht in Ruhe leben."

Erinnerung an das Leid des armenischen Volkes

Mit diesen und ähnlichen Zeilen seiner "Steinträume" endet die bemerkenswerte Karriere von Akram Aylisli. Es gibt nicht viele Menschen auf beiden Seiten des Konflikts, die wie der aserbaidschanische Autor auch die Verbrechen der eigenen Seite benennen. Aylisli aber schreibt von den zerstörten Kirchen und Friedhöfen seiner Heimat und wird zum Spielball der öffentlichen Empörung. Seine Bücher werden verbrannt, seine Ehrentitel aberkannt und ein Kopfgeld ausgelobt für jene, die ihm sein Ohr abschneiden.
Aylisli erinnert daran, dass das armenische Volk auf eine Geschichte voll Leid und Vertreibung zurückblickt. Zentral ist darin der Völkermord 1915 durch die Jungtürken. Verstreut in alle Welt und auf der Suche nach einer Heimat wächst ein Wissen um die Zerbrechlichkeit der eigenen Existenz. Die meisten Armenier nennen Aserbaidschaner schlicht Türken und so wird der Schrecken des Genozids in die Gegenwart verlängert.
"Jerewan versteckt ihr Alter. Eitel schmückt sich die Stadt in ihrem Zentrum mit schnurgeraden Prachtstraßen, verbirgt ihre Falten hinter den verspiegelten Fassaden neuer Bürotürme, protzt mit aufwendig renovierten City-Appartements und Boutiquen voll europäischer Designerware. Und so bedarf es des Fingerzeigs eines Stadtführers wie Mark Grigoryan, um die schmalen Stufen hinauf in das Altstadtviertel Kond zu finden. Er hat versprochen, uns das historische Jerewan zu zeigen."
Der Leiter des Museums für Architektur kennt die Stadt wie kaum jemand sonst. Entweihte Friedhöfe und zerstörte Kirchen, verbrannte und verfallene Moscheen: Wir wollen von Grigoryan wissen, ob das Miteinander von Christen und Muslimen in diesem Teil der Welt schon immer so ausgesehen hat.
"Soweit ich das sagen kann, gab es ein gutes Auskommen (zwischen Christen und Muslimen). Das waren friedliche Viertel. Beide Seiten haben voneinander profitiert. Bei der armenischen Kirche gab es Krankenbetten, Muslime konnten dort hingehen und wurden behandelt. Schöne Gärten umgaben Kirchen und Moscheen, die Leute haben dort gerne ihre freie Zeit verbracht. Ganz besonders in den Abendstunden, nachdem die Sonne untergegangen war. Es gibt keine historischen Belege dafür, dass es vor dem Anfang des 20. Jahrhunderts ernsthafte Probleme zwischen Christen und Muslimen in dieser Stadt gegeben hat."

Die Möglichkeit eines "dritten Narrativs"

Und dann erzählt Mark Grigoryan, wie noch in den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts die Intelligenzija in den Gärten der Blauen Moschee von Jerewan zusammengekommen ist. Schriftsteller, Maler, Komponisten, Ärzte und Doktoren. Ist das nicht ein Erbe, das es lohnt, zu betonen? Eine Frage, die wir am Ende unserer Recherche auch Thomas de Waal stellen.
"Historiker könnten in diesem Konflikt mit Sicherheit eine positive Rolle spielen. Eine andere Darstellung der Ereignisse ist möglich, ich nenne sie das dritte Narrativ. Es könnte die Menschen zusammenbringen. Aber zunächst muss es eine Art verbalen Waffenstillstand geben. Von ganz oben muss der ausgehen, damit es gelingen kann. Ich denke, das wissen die Politiker auch. Leider ist der Konflikt in vielerlei Hinsicht nützlich für sie."

Es sprechen: Frank Arnold, Tilmar Kuhn, Markus Hoffmann, Frauke Pohlmann
Ton: Hermann Leppich
Regie: Klaus-Michael Klingsporn
Redaktion: Winfried Sträter

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