Kulturreiches Berlin

Von Elisabeth Nehring |
Das 100 Grad Festival in Berlin hat inzwischen Tradition in der freien Szene - und feierte in diesem Jahr zehnjähriges Bestehen. Zu sehen gab es wieder allerhand: ein Band, die ein Fußballspiel begleitet. Tänzer, die zu allem tanzen und eine Japanerin mit Stacheln, die zittert.
Können Sie erraten, was hier gerade passiert? Bestimmt nicht! Ein Ball rollt ins Aus! Deutlich zu sehen auf der großen Leinwand, auf die eine Partie zwischen zwei polnischen Fußballvereinen projiziert wird. Doch statt der gewohnten Kommentare hören wir eine Live-Band, die das Spielgeschehen begleitet. Und deren Musik erzählt mehr über das Ansteigen und Abflauen der Spannung als Tausend Worte.

Dem ‚Fußballstummfilm mit Orchester’ von Dominik Fraßmann gelang es, das Spiel auch für Nicht-Fans kompatibel zu machen. Dabei versetzte es uns zurück in Zeiten, als Bild und Ton noch nicht so einfach zu synchronisieren waren – und schlug eine ungewöhnliche Brücke zwischen Kultur und Sport.

Vom Fußballstummfilm stolperte man in den Berliner Sophiensaelen ein paar Treppen nach oben direkt in die Pförtnerloge, wo sich Drehbuchstudent Sascha Hargesheimer einem vergessenen Regisseur widmete: Bela Roberti, Ikone des ja nicht sehr erfolgreichen Genres des deutschen Science-Fiction-Films aus den 80er-Jahren. Dieser Bela Roberti wollte seinen letzten Film ‚Die Wiese der Dinge’ in einem verlassenen Hotel an der polnischen Küste drehen – und ist von dort nie wiedergekommen. Sascha Hargesheimer folgt dieser geheimnisvollen Geschichte; an den Wänden der Pförtnerloge hängen jede Menge Bilder und Notizen.

"Das ist hier alles Suggestivarbeit, Rekonstruktion. Man kann nur aus den Notizbüchern nur zusammensuchen, was könnte er wohl gemeint haben. Und --- genau, kann man da auch die Musik mithören. Und den Schlussmonolog könnte man sich auch anhören. Die Idee ist: Ich lese die ganze Zeit die Notizbücher und versuche, Querverweise zu finden und habe mir die Polenkarten ausgedruckt und die Fotos, die ich finden konnte und suche es hier so durch und vielleicht ergibt sich im Erzählen noch mal was oder mir kommen Gedanken oder vielleicht sieht jemand anderes noch eine Verbindung oder weiß etwas. Vielleicht bin ich dann schlauer."

Kunst als Suche nach dem Unbekannten – Drehbuchautor Sascha Hargesheimer ließ uns unmittelbar daran teilnehmen. Das mag kein großes Theater sein, ist aber eine sehr charmante Idee – und gekoppelt mit der Frage, ‚Wie kann was überhaupt rekonstruiert werden?’ – auch eine sehr zeitgemäße.

Davon gab es bei der diesjährigen Ausgabe von 100 Grad Berlin wieder einige – dabei muss man nicht einmal nachgewiesener Maßen Theaterprofi sein, um sich an diesem Festival zu beteiligen. Pure Geschwindigkeit reicht aus. Die ersten 100 eingesendeten Projekte werden gezeigt. Franziska Werner, künstlerische Leiterin der Sophiensaele:

"Das ist auch die Herausforderung von 100 Grad, dass man das auch mal zulässt. Natürlich gibt es auch viel, was nicht toll ist aber die Qualität ist an sich auch immer wieder überraschend und es gibt auch tolle Produktionen und man kann auch wirklich nach wie vor noch was entdecken, was wirklich erstaunlich ist, weil, wir gucken ja alle sehr viel und dann kommen da Leute mit fertigen Produktionen und man ist wirklich überrascht, was die können und was die für Ideen haben."

Fest steht: an Ideen mangelt es nicht! Auch nicht an Mut und Entschiedenheit! Und wenn sich jemand mit etwas mehr als sich selbst beschäftigt, funktioniert das meistens auch sehr gut.

Die jungen Enthusiasten vom ‚Tanz Europe Express’ z.B. tanzten sich durch alles, was sie kennen: Volkstänze, Contact-Improvisation, Techno. Obwohl sie, wie sie selbst zugeben, eigentlich gar nicht tanzen können. Dafür gab es dann auch gleich den ersten Preis der Jury. Auf derselben Bühne trat später ein fiktiver Holger im Superman-Kostüm auf und erzählte zwischen lauter Kinderspielzeug von seinem lebensrettenden Dienst beim Malteser Hausnotruf. Und auch der Weltuntergang wurde im Rahmen dieser vier Tage als groteskes Szenario schon mal durchgespielt: Regisseur Jakob Weiss ließ in seiner kubistischen Oper ‚Zusammenstoß’ nicht nur Kurt Schwitters, sondern ganz Dada wieder aufleben. Franziska Werner beobachtet das Festival 100 Grad Berlin seit seinen Anfängen.

"Es wird weniger Theater gemacht und viel mehr Performances und diese Mixformate, auch Tanz, Performance. Früher haben sich viel mehr Leute hingestellt und den King Lear vom Blatt versucht zu spielen. Und das sehe ich wirklich kaum noch. Das war vor fünf, sechs Jahren war das noch viel häufiger. Und dieses Jahr --- natürlich waren da auch viele Sachen dabei, die mir nicht gefallen haben, aber ich habe nichts gesehen, wo ich dachte, das ist ja so ein richtiger Einbruch, das geht ja überhaupt nicht. Vielleicht ist schon generell die Qualität eine andere, das ist schon ein ziemliches Level für so ein unkuratiertes Festival."

In diesem Jahr mit dabei war auch die Berliner Kulturpolitik. Besonders der Landesverband Freier Theater in Berlin, kurz: Laft genannt, machte mit seinen kulturpolitischen Forderungen ordentlich mobil. Sie reichen von der Überlegung, 50 Prozent der kommenden City-Tax für die Freie Szene in Berlin bereit zu stellen, über die Stärkung von Selbstverwaltungsstrukturen, den Erhalt bezirklicher Kunst- und Kulturförderung, die Schaffung von Orten mit eigenen Produktionsetats für die Freie Szene bis zur Durchsetzung von Honoraruntergrenzen für freie Künstler. Das Thema Honorare betrifft auch das Festival 100 Grad Berlin selbst – denn bisher werden den dort auftretenden Künstlern keine Honorare gezahlt. Björn Pätz vom Laft Berlin:

"Es hat sich total bewährt, in diesem Format von zehn Jahren haben wir alle gesehen, dass viele Protagonisten hier entstanden sind und jetzt im Festivalzirkus unterwegs und in der freien Szene etabliert sind. Wichtig für das Format finden wir vom Laft Berlin, wenn es die nächsten zehn Jahre weiter geht, was wir wünschen, dass man Formen für Honorare für die Künstler, die hier auftreten, findet – und sei es auch kleine. Und dem auch eine Wertschätzung entgegen bringt."

Wertschätzung gibt es auf jeden Fall, sogar in Hülle und Fülle – wenn auch noch nicht in materieller, so doch bereits in ideeller Form. Denn das eigentlich Faszinierende an 100 Grad Berlin ist das Publikum. Wer je 400 Leute dabei beobachtet hat, wie sie nachts um halb zwölf einer japanischen Performerin im weißen Stachelkostüm aufmerksam beim Zittern zusehen und jede ihrer Bewegungen gespannt verfolgen, muss eine Stadt, in der so etwas möglich ist, einfach lieben. Franziska Werner:

"Das ist auch wirklich das Einmalige an Berlin und der Berliner Szene, ich frage mich auch wirklich, ob das in anderen Städten so laufen könnte, wie das hier läuft, das ist schon, glaube ich, ein Berlinspezifisches Festivalformat, das hier so gut funktioniert, weil die Szene so riesig ist und so reich und so vielfältig und das als Forum und Messe auch gut funktioniert und das auch von der Atmosphäre lebt. Weil jede Gruppe bringt Freunde, Kollegen mit, die auch wieder auf andere treffen, es wird auch wieder über Produktionen gesprochen, es treffen sich Wildfremde, die dann anfangen, sich darüber auszutauschen. Und das ist das, was Künstler weltweit nach Berlin zieht, weil sie hier auf Feedback stoßen."
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