Von der Schönschrift zur Sauklaue
E-Mail, SMS, Textverarbeitung – immer seltener schreiben wir mit der Hand. Müssen Kinder das Schreiben da überhaupt noch lernen? Christian Marquardt, Experte für Motorik und Handschrift, sagt, die Kulturtechnik sei gut für die Entwicklung unseres Hirns und dem Tippen auf PC-Tastatur und Handy oft überlegen.
Joachim Scholl: Wie sollen Kinder heute Schreiben lernen, in einer Zeit, in der der Sprung vom Füller und Bleistift zur Tastatur von Computer und Handy immer früher erfolgt, ist es da noch sinnvoll, dass man Kindern die traditionelle Schreibschrift beibringt? Seit 2011 wird zum Beispiel in Bayern an verschiedenen Schulen die sogenannte Grundschrift gelehrt, eine Form der Druckschrift, aus der heraus das Kind dann seine eigene Handschrift entwickeln soll. Weitere Bundesländer wollen das Experiment ebenfalls durchführen. Bei uns im Studio ist jetzt Christian Marquardt, Experte für Motorik und Handschrift, der diese Zusammenhänge wissenschaftlich erforscht hat. Guten Tag, Herr Marquardt!
Christian Marquardt: Guten Tag!
Scholl: Viele Hörer werden sich vermutlich gut erinnern an den doch mühevollen Prozess, die ersten Buchstaben auf einer geraden Linie im Schreibheft aufzumalen und so auch das Alphabet zu lernen und schließlich dann die Buchstaben miteinander zu verbinden und Worte zu schreiben. Warum rückt man von dieser Technik, dieser Tradition auch, jetzt ab, was sind die Argumente?
Marquardt: Es gibt natürlich seit längerer Zeit Probleme in den Schulen mit Kindern, die nicht mehr richtig Schreiben lernen. Die Ursachen – da wird viel vermutet, dass es an zu wenig Übung liegt, dass es vielleicht auch daran liegt, dass Kinder heute, bevor sie in die Schule kommen, möglicherweise zu wenig üben. Wir gehen allerdings an das Problem etwas anders heran. Wir machen seit 25 Jahren Grundlagenforschung im Bereich Handschrift, Handschreiben, und wir haben dazu ein Instrumentarium, mit dem wir die Schreibmotorik messen können. Das heißt, wir fragen uns, was ist denn Schreiben überhaupt. Und die Diskussionen in den letzten Jahren haben sich ja immer sehr stark um die Schrift, um die Lesbarkeit gedreht. Und das Thema Schreibmotorik, also was macht die Hand beim Schreiben eigentlich, dieses Thema ist nie in diesen Diskussionen strukturiert behandelt worden.
Scholl: Was hat es denn mit dieser Verbindung zwischen den Buchstaben, wenn man es mal so nennen will, auf sich, Herr Marquardt, also was ist hier aus Ihrer Sicht wichtig und was problematisch?
Schreiben lernen wir drei Mal
Marquardt: Wir schauen uns zum Beispiel die Schrift von erwachsenen Schreibern an, und da kann jetzt auch jeder Zuhörer und Sie selber können sich das auch einmal überlegen, wo denn eigentlich Ihre Schrift hergekommen ist, die Sie jetzt, aktuell schreiben. Das heißt, die Schrift, die Sie früher so mühevoll gelernt haben, die ist irgendwie verschwunden, und stattdessen ist eine andere Schrift entstanden, nämlich Ihre individuelle, persönliche Handschrift. Und wir untersuchen die Charakteristiken, die Mechanismen hinter dieser Schrift. Wenn man sich nämlich diese Diskussion anschaut um die Grundschrift und die VA und die LA, das sind also die verschiedenen Schriften, die in der Vergangenheit und in der Zukunft vielleicht benutzt werden, dann geht es immer sehr stark um die Schrift auf dem Papier. Aber das sind Ausgangsschriften, das sind Ausgangsschriften, die den Einstieg in den Schrifterwerb eigentlich bedeuten, und der eigentliche Schrifterwerb, der dann zu Ihrer Schrift geführt hat, der liegt für viele im Dunkeln. Das heißt, die Mechanismen, die hinter Ihrer Schrift liegen, sind öffentlich und auch jetzt fachlich, innerhalb der Lehrerausbildung zum Beispiel, nicht genügend reflektiert.
Scholl: Aber uns hören bestimmt jetzt viele Eltern zu und sagen, och, interessant. Also ich habe, als ich mich in die Debatte hineinbegab, hat mir schnell der Kopf geschwirrt von den verschiedenen Begriffen, also Grundschrift, Schreibschrift, Handschrift, Ausgangsschrift liest man – ich kannte das Wort überhaupt nicht.
Marquardt: Also Ausgangsschrift, ich kann jetzt hier mal zum Beispiel aus dem neuen bayerischen Lehrplan sogar zitieren. Hier steht drin, dass Schülerinnen und Schüler anfangs eine unverbundene Schrift, Druckschrift, schreiben. Damit wird also angefangen, das ist die erste Schrift, die man lernt. Das hängt natürlich mit dem Lese-/Schreiberwerb zusammen, dass man am Anfang auch Lesen lernen muss. Also man lernt erst mal sozusagen die Druckbuchstaben. Dann steht hier: Sobald die motorische Sicherheit und Routine vorhanden ist im Lesen und Schreiben, erfolgt die Einführung einer verbundenen Schrift, und das ist die vereinfachte Ausgangsschrift oder die Schulausgangsschrift in Bayern jetzt in Zukunft. Das sind also Ausgangsschriften. Und dann, und interessanterweise steht das nun auch im Lehrplan, das ist früher nicht dringestanden, steht hier: Die Schülerinnen und Schüler verfeinern dann, später, nach Beratung durch die Lehrperson ihre Schreibmotorik, indem sie vorteilhafte Bewegungsabläufe, alternative Buchstabenformen sowie ökonomische Verbindungen zwischen den Buchstaben erproben und einüben.
Das heißt, sie müssen eigentlich dreimal schreiben lernen, nämlich erst die Druckbuchstaben, dann die Ausgangsschrift und dann ihre individuelle Handschrift. Und wenn sie nun ihre Schrift anschauen, die Sie letztendlich gelernt haben, dann werden Sie sehen, dass das mit der Ausgangsschrift nur noch sehr begrenzt etwas zu tun hat. Das heißt, wir müssen eigentlich, wenn wir über Schreibprobleme reden, vor allen Dingen darüber reden, wie denn Ihre individuelle Handschrift entsteht. Und dieser Punkt wird völlig übersehen bei der Schriftendiskussion, sondern da wird letztendlich auf die Ausgangsschrift eingegangen und es wird behauptet, dass entweder die Druckbuchstaben oder die verbundenen Buchstaben gewisse Vor- oder Nachteile hätten. Und wir gehen eigentlich eher von dem Schüler aus, wie der Schüler selber seine spätere Schrift erlernen muss.
Scholl: Grundschrift, Schreibschrift, Handschrift, Ausgangsschrift – übers Schreibenlernen sind wir hier im Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem Motorikexperten Christian Marquardt. Nun ist wohl unbestritten, wie bedeutsam Schreibenlernen ist für die Persönlichkeitsentwicklung. Welche Rolle spielt denn dabei die eigene Handschrift?
Viele Lehrer schämen sich für Ihre Handschrift
Marquardt: Die eigene Handschrift hat natürlich für jeden eine besondere Bedeutung. Das wissen wir auch selber, wenn wir schreiben. Wenn ich zum Beispiel Seminare gebe vor Lehrern und die Aufgabe ist dann, dass man praktisch einmal vorführt, wie man eigentlich selber schreibt, dann haben auch viele Lehrer große Hemmungen, ihre Schrift vorzuführen. Das heißt, viele schämen sich sogar für ihre Handschrift, weil sie scheinbar diesen Regeln, die früher einmal vorgegeben wurden in der Schule, nicht so sehr genügen. Zum Beispiel setzen viele Lehrer natürlich auch, aber auch wir alle, die normal schreiben, setzen oftmals ab, wir haben die Buchstaben sehr stark verfremdet. Teilweise lassen wir ganze Buchstaben aus, wenn es der Lesbarkeit nicht hinderlich ist.
Scholl: Die klassische Sauklaue ist das doch, von der man spricht, Herr Marquardt, oder?
Marquardt: Das ist vielleicht die klassische Sauklaue, wobei, auch die schönen Schriften werden oftmals von den Schreibern nicht so positiv eingeschätzt, wie es sein sollte, weil sie eben nicht diesen Ausgangsschriften entsprechen. Die Sauklaue ist sozusagen nur das untere Ende dieser Skala. Wenn Sie fragen, wie viele Leute wirklich mit ihrer Handschrift zufrieden sind, dann werden Sie heutzutage auf eine sehr kleine Prozentzahl kommen.
Scholl: Aber wenn Sie sagen, Herr Marquardt, dass Sie sozusagen diesen Zusammenhang erforschen, was es überhaupt hat mit dem Schrifterwerb – also, dass es gar nicht so drauf ankommt, wie man schreibt, sondern was dahinter steht. Also mir ist dabei eingefallen, als ich als Kind ganz früh die Majuskel, also den großen Anfangsbuchstaben, habe ich relativ schon, glaube ich, mit sieben oder acht immer als Druckbuchstaben gesetzt. Und dann habe ich erst angefangen zu schreiben. Also meine Lehrer wollten mir das am Anfang hart austreiben. Hatten sie recht?
Marquardt: Die Frage ist ja, warum man eine relativ komplizierte Kunstschrift wie die vereinfachte Ausgangsschrift oder wie die lateinische Ausgangsschrift erst lernen muss, wenn danach eine deutlich effizientere und ökonomischere Schrift wieder herauskommt als ihre individuelle Schreibschrift. Wenn wir das Ganze mal von hinten aufzäumen und uns fragen, was ist eigentlich die Charakteristik an der Schrift, die geschrieben werden kann, dann gibt es da eben ganz andere Dinge, die wichtig sind, die nicht so sehr jetzt mit der Verbundenheit zum Beispiel zu tun haben, das spielt da letztendlich keine Rolle, dass man alles verbindet. Im Gegenteil. Es gibt zum Beispiel etwas, was wichtiger ist, das ist der Rhythmus, das ist die Flüssigkeit, das ist eine relativ hohe Frequenz.
Schulschrift verändern, damit sie schreibbar wird
Das heißt, es wird so schnell geschrieben, dass man es nicht mehr kontrollieren kann. Also fünfmal pro Sekunde geht der Stift nach oben und unten. Es werden viele Dinge vereinfacht, zum Beispiel werden die komplexen Großbuchstaben als Druckbuchstaben geschrieben. Es werden die Ns normalerweise als U geschrieben. Es gibt kaum einen erwachsenen Schreiber, der das N so schreibt, wie man es mal gelernt hat. Und so weiter. Es werden die Doppelzüge weggelassen bei den Aufstrichen von den Buchstaben, wie zum Beispiel dem A, und so weiter. Das heißt, es gibt eine ganze Reihe von systematischen Veränderungen, die wir in unserer Schrift durchführen müssen sogar, damit sie schreibbar wird. Von daher ist also der Weg dahin wichtig zu diskutieren, und nicht so sehr, wo man herkommt.
Scholl: Nun hat es in der kulturellen Entwicklung des Schreibens ja immer bedeutsame Wendepunkte gegeben, also, als der Bleistift aufkam und man die Schreibfeder nicht mehr ins Tintenfass tunken musste, das heißt, ohne Pause schreiben konnte. Dann der Riesenschritt zur Schreibmaschine, die jetzt völlig von der Computertatstatur ersetzt wurde. Da hieß es anfangs auch, dass es unser Denken beim Schreiben ungut beeinflussen würde, weil man sofort alles löschen, ersetzen kann. Man könnte folgern, wir entfernen uns doch eigentlich immer mehr von der Handschrift. Muss man denn überhaupt noch eine haben?
Schreibenlernen hinterlässt sehr starke Spuren im Gehirn
Marquardt: Na ja, es gibt natürlich die Überlegung, dass man die Information, die reine Information auch anders irgendwo in ein Medium transportieren kann, zum Beispiel über Tastatur oder bei Sprache heutzutage, bei Sprachaufzeichnung. Auf der anderen Seite ist es natürlich so, dass es Untersuchungen gibt, die zeigen, dass unser Schreiben und auch das Schreibenlernen sehr starke Spuren hinterlässt in unserem Gehirn. Das heißt, es sind beim Schreiben mehr Hirnareale beteiligt. Wir können uns Dinge, die wir aufgeschrieben haben, besser merken, als wenn wir sie nur eingetippt haben. Wir können Inhalte besser formulieren, wenn wir sie schreiben. Es gibt auch Untersuchungen, dass eben Druckschrift, reine Druckschrift das Wortgedächtnis nicht so sehr fördert wie das Schreiben von Wörtern, die in Blöcken geschrieben werden, also nicht so sehr als Buchstaben, sondern – ich sage jetzt nicht verbunden, aber in einer verbundenen Bewegung. Das heißt, es gibt durchaus sehr große Vorteile, und man würde jetzt auch nicht unbedingt so etwas wie Musik abschaffen, wie ein Musikinstrument, das man spielt, nur, weil es heute auch synthetisch erzeugt werden kann.
Scholl: Schreiben Sie noch Postkarten?
Marquardt: Ich schreibe Postkarten, aber ich muss natürlich zugeben, heutzutage ist es so, dass man per Skype und per SMS natürlich sehr viel in Verbindung ist und dass sich natürlich unser gesamtes Kommunikationssystem dramatisch geändert hat.
Scholl: Wie Kinder heute Schreiben lernen. Das war Christian Marquardt, Wissenschaftler für Motorik, Bewegung und Schrift. Vielen Dank, Herr Marquardt, für Ihren Besuch und das Gespräch!
Marquardt: Ja, bitte schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.