Altes Schätzchen wachgeküsst
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Früher wurden hier Schiffe repariert - heute sind die alten Werfthallen in Lübeck ein Kulturstandort: "Foreigner" spielten hier, der Künstler Jonathan Meese trat auf. Auch die Bundeskanzlerin hatte schon einen Auftritt in der Kulturwerft.
Die Kulturwerft Gollan liegt nicht in der Peripherie. Sondern gerade mal 200 Meter Luftlinie von der Lübecker Altstadtinsel entfernt. Früher wurden in den weitläufigen alten Industriehallen Schiffe gebaut und riesige Bagger. In Hochzeiten malochten bis zu 4000 Menschen auf dem Gelände.
"Unheimlich viele Familien aus Lübeck haben irgendeinen Bezug hier. Also, es ist mir auch so ergangen, dass Menschen hergekommen sind, als es das erste Mal publik wurde. Und mit einem Foto: 'Das ist mein Urgroßvater und das muss doch da an dieser Stelle gewesen sein!' Und das hat mich fasziniert, das wusste ich nicht."
Eher zufällig und ungeplant ist Thilo Gollan zu einem Bewahrer geworden. Nicht nur von vielen einzelnen Lebensgeschichten. Sondern auch von einem Stück schleswig-holsteinischer Industriegeschichte.
Ein besonderes Gefühl
2011 hatte der Unternehmer das knapp fünf Hektar große Areal gekauft. Eigentlich hatte er geplant, die meisten der Gebäude und Hallen auf der Roddenkoppel abzureißen und das Gelände für seinen Abfallwirtschaftsbetrieb zu nutzen. Aber dann kamen Zweifel, ob es nicht doch in eine andere Richtung gehen solle.
Zum Beispiel, als seine Frau anregte, eine der Hallen für das 60-jährige Jubiläum des Familienunternehmens herzurichten. Und auch Thilo Gollan verspürte beim Betreten der Halle 5, dem ältesten Gebäude auf dem Gelände, ein besonderes Gefühl.
"Das Dach war eingefallen, hier stand alles voll mit irgendwelchen Sachen", erinnert er sich. "Hier wuchsen Farne, da waren Bäume drin, es regnete also direkt rein, tropfte rein und es war, wie in einem super 'Tatort' eigentlich. Also, das Bild war wirklich faszinierend. Und ich bin dann an eine Kiste gegangen, habe dran rumgerüttelt und dann liefen die Ratten da raus."
Das Alte bewahren, das Neue kenntlich machen
Von diesem Bild ist heute nichts mehr übrig. Die 1870 erbaute Halle wurde instandgesetzt und gleicht an diesem Wintermorgen mit den durch die Glasfront fallenden Sonnenstrahlen fast einer Kathedrale. Wie auch bei anderen Bauwerken auf dem Gelände wird seit Jahren der Ansatz verfolgt: Das Alte soweit wie möglich bewahren. Und das Neue als solches kenntlich machen.
Im vergangenen Jahr hat hier in der Halle 5 Jonathan Meese eine Performance organisiert, ein Video auf der Homepage des Künstlers hat den Auftritt dokumentiert:
"Man muss sich ja schön machen für die Diktatur der Kunst. Ja, man muss sich so schön machen für die Zukunft!"
Von einer Diktatur der Kunst würde Hausherr Thilo Gollan sicher nicht sprechen. Aber klar ist, dass die hier entstandene Kulturwerft einen ganz neuen und attraktiven Standort in Lübeck geschaffen hat.
Im Video von Jonathan Meeses Kunstperformance heißt es weiter: "Ist ja nur ein kleiner Schritt. Man muss ja einfach nur immer nach vorne gehen! Das ist ja Kunst. Kunst ist einfach nur ein bisschen nach vorne zu gehen! Einfach nur einen Schritt nach vorne zu gehen!"
Thilo Gollan hat mit dem Aufbau der Kulturwerft einen großen Schritt getan. Sein in Ostholstein angesiedeltes Unternehmen zählt heute rund 450 Beschäftigte und ist auf verschiedenen Geschäftsfeldern tätig.
Keine Fördergelder beantragt, sondern einfach gemacht
Doch von Kulturbetrieb hatte er damals keine Ahnung, räumt der heute 56-Jährige ein. Und das in einer bürgerlichen Stadt wie Lübeck, die so stolz ist auf ihr üppiges kulturelles Erbe aus mittelalterlichen Bauwerken, klassischer Musik und mehreren Nobelpreisträgern:
"Ich sage mal, die Lübecker wussten ja auch nicht, dass wir das hier auf einmal fertig gemacht haben. Wir haben keine Fördergelder beantragt oder irgendwas, dass es irgendwie diskutiert wurde. Sondern wir waren auf einmal - klack - da! Und für mich ist das immer so das Beispiel: Ich bin als Kulturwerft in einen Raum gegangen, da waren die ganzen Kulturschaffenden und 'Moin, hier bin ich!'"
Doch insgesamt hätte die Kunst- und Kulturszene offen auf das Projekt reagiert. Vielleicht auch, weil hier etwas ganz Neues und in der Hansestadt noch nicht Dagewesenes entstanden war. Fast eine Art Gegenentwurf zur Hamburger Elbphilharmonie, deren Fertigstellung bekanntlich viele hundert Millionen an Steuergeldern verschlungen hat?
Früher Schiffe, heute Konzerte und Fernsehen
Thilo Gollan hat inzwischen eine riesige Halle betreten.
"Hier sind die Schiffe vom Wasser reingezogen worden und hier wurden Schiffsaufbauten reingemacht. Wir sehen ja hier den Kran auch noch drin mit dem Kranhaus."
Auf der Kulturwerft gab es in den letzten Jahren hunderte Ausstellungen, Messen, Konzerte, Feiern und Performances. Fünf Sterne deluxe sind hier aufgetreten, genauso wie die britisch-amerikanische Rockband Foreigner.
Im Sommer 2017 fiel dann ein ARD-Tross ein, baute hier in der Halle 9 Scheinwerfer und Kameras auf…
"Ja, guten Abend, Frau Merkel, mein Name ist Alexander Jorde, ich mache eine Ausbildung zum Gesundheits- und Krankenpflege. Und im Artikel 1 des Grundgesetztes steht: 'Die Würde des Menschen ist unantastbar.' Jetzt habe ich es in einem Jahr ungefähr im Krankenhaus und in Altenheimen erlebt, dass diese Würde tausendfach täglich in Deutschland verletzt wird."
Auch Merkels damaliger Herausforderer Martin Schulz machte mit der ARD-Wahlarena 2017 Station in der Kulturwerft. Spannend sei das gewesen, gerade bei der Technik, meint Thilo Gollan:
"Aber wir haben hier MTV unplugged gehabt, Santiano, das war echt grandios, wie die das hier genutzt haben."
Die Pressesprecherin wird nervös
Direkt neben der Halle schiebt sich an diesem Tag gerade eine Hebebühne in die Höhe. Über dieser Halle fehlt das Dach, über dem alten historischen Stahlgerippe erstreckt sich der blaue Winterhimmel. Thilo Gollan geht jetzt eine neu errichtete Metalltreppe hinauf und führt nach oben. Hier in dem noch nicht geschlossenen Raum soll später eine Mall entstehen, wie er sagt. Der Radioreporter runzelt die Stirn und die Pressesprecherin wird nervös. Dann erklärt Gollan, was er meint:
"Kein Einkaufszentrum. Keine Jeans, kein Computer, den sie hier kaufen können. Aber kreative Leute, die hier ihre Produkte anbieten oder einfach ihrer Tätigkeit nachgehen. Oder ein Bild malen oder irgendetwas Kreatives machen und sich befruchten. Und denen können Sie dann zugucken, da können Sie dann dabei sein oder mitmachen. Oder Sie können sich hinsetzen und die Atmosphäre genießen und einfach einen Kaffee dazu trinken."
Die Kulturwerft läuft gut, ist über Monate ausgebucht. Trotzdem: Wirtschaftlich ist der Betrieb noch nicht. Doch er soll es eines Tages werden, sagt der Firmenchef. Draußen vor dem Spitzbunker möchte er die große Freifläche zunehmend für Open-Air-Konzerte und Festivals nutzen. Direkt daneben ist in eines der Gebäude gerade die Geschäftsstelle des Schleswig-Holstein-Musik-Festivals gezogen. Schon seit einigen Jahren nutzt es auch die Kulturwerft als Spielstätte.
Schritt für Schritt den Ort weiter beleben
Nur ein paar Schritte um die Ecke ist davon nichts zu spüren. In einer riesigen alten Halle stehen mehrere Schrottberge, ein Bagger ist gerade dabei, Matratzen zusammenzuschieben.
"Also, mir macht Abfallwirtschaft und Bauen weiterhin unglaublich viel Spaß. Und das will ich weiter auch gerne machen. Und mit den Leuten auch weiter entwickeln. Aber wir müssen einfach die Kulturwerft auch für sich sehen, auch als Ort. Und von daher passt es einfach nicht mehr hierher."
Ohne den breit aufgestellten Betrieb im Hintergrund wäre Thilo Gollan sicherlich nicht das Abenteuer eingegangen, aus einer Industrieruine eine Kulturstätte zu machen. Auch in Zukunft will der unternehmerische Tausendsassa hier Schritt für Schritt den Ort weiter beleben und für die Stadt zugänglich machen, wie er sagt. Auch wenn dieser Prozess vielleicht nie abgeschlossen sein wird:
"Das könnte passieren", sagt er und lacht. "Dann muss ein anderer weitermachen."