Kumpfmüller: "Nachricht an alle" ist kein Schlüsselroman
Der Schriftsteller Michael Kumpfmüller hat betont, sein Roman "Nachricht an alle" über einen fiktiven Politiker habe keine realen Vorbilder. Einen Schlüsselroman zu schreiben, sei ihm zu langweilig. Vielmehr liefere er die Arbeitsplatzbeschreibung eines westeuropäischen Ministers. Literatur solle immer auch eine Analyse der Gegenwart liefern.
Joachim Scholl: "Nicht die ganze Wahrheit" heißt der Roman des "Spiegel"-Journalisten Dirk Kurbjuweit. "Das Wochenende" lautet der Titel des neuen Buches von Bernhard Schlink. Beide Werke spielen in der politischen Sphäre. Dass die Literaturkritik aber bereits einen Trend wittert, nämlich die endlich mal fällige Thematisierung aktueller Politik in der Belletristik, liegt vor allem an einem Buch, das im letzten Herbst schon mit dem Döblin-Preis ausgezeichnet und diskutiert wurde. Jetzt ist es erschienen, "Nachricht an alle" des Berliner Autors Michael Kumpfmüller, und er ist bei uns jetzt im Studio. Schönen guten Morgen, Herr Kumpfmüller!
Michael Kumpfmüller: Guten Morgen!
Scholl: "Nachricht an alle" ist Ihr dritter Roman. Politik, nämlich deutsch-deutsche Wirklichkeiten, das hat schon bei Ihrem ersten eine Rolle gespielt, "Hampels Fluchten", den Kontext dazu bereitet. Nun gehen Sie aber mittenmang ins politische Geschehen: Ihr Held ist ein veritabler Innenminister. Wie kamen Sie auf Person und Stoff`?
Kumpfmüller: Ja, da gibt es mindestens zwei Antworten. Ich glaube, ich interessiere mich seit jeher für Stoffe, die mir erst mal nicht nahe liegen, eine bestimmte Sprache, wie man überhaupt über das schreiben kann. Es fordert mich heraus. In der politischen Sphäre ist es ja so, da stehen wir vor der seltsamen Situation, dass wir alles zu wissen meinen und trotzdem immer das Gefühl haben, es gäbe noch ein Geheimnis, dass wir entschlüsseln müssen.
Ja, das ist der eine Grund. Und der andere ist, wenn man literaturgeschichtlich guckt, ist es ja lange nicht mehr passiert, dass jemand versucht hat, über Politik zu schreiben, in dem Sinne auch, dass die Protagonisten des politischen Geschäfts sozusagen eine eigene Stimme kriegen. Ja, das hat mich interessiert, ob man das kann und wie man das kann. Wobei mein Roman ja beides ist, eine Arbeitsplatzbeschreibung von Politik und irgendwie auch eine Bestandsaufnahme so unserer gesellschaftlichen Situation.
Scholl: Der ministeriale Held, der hat einen Namen, Selden heißt er. Dennoch wird mit Absicht vermieden, deutsche Verhältnisse abzubilden, etwa das Land, in dem Ihr Roman spielt, wird nicht genannt, irgendwo in Europa. Haben Sie diese Anonymität gewählt, um dem Eindruck eines politischen Schlüsselromans im Vorhinein zu begegnen? Natürlich stand schon irgendwie zu lesen, ja, das könnte wohl Otto Schily irgendwie so ein wenig das Vorbild sein für diesen Innenminister.
Kumpfmüller: Ja, das habe ich natürlich ganz bewusst so gemacht, weil ja das Schlüsselromanspiel ja eigentlich ziemlich langweilig ist. Da kommt am Ende dann raus, er ist es gewesen. Das ist so ein Entdeckungsspiel. Aber das ist eigentlich für einen Literaten ziemlich langweilig. Außerdem ging es mir darum, den Blick wirklich auf so eine westeuropäische Situation zu weitern. Deshalb gehen ja auch Erfahrungen anderer Länder in den Roman ein. Wenn man sagen würde, es ist ein deutscher Roman, müsste man sagen, ja, wieso, aber wir hatten doch noch gar keine Unruhen in den Vorstädten usw. Da war mein Interesse weiter, weil ich glaube, dass wir ähnliche Probleme haben in Westeuropa, und deshalb durfte das kein Schlüsselroman sein. Obwohl natürlich klar ist, dass ich von Deutschland her schreibe und da bestimmte Erfahrungen eingehen, die vielleicht in anderen Ländern so nicht vorliegen.
Scholl: Man weiß und hört, dass Sie für diesen Roman viel recherchiert haben, nicht nur den Fernseher eingeschaltet und die Zeitung aufgeblättert, sondern auch direkt Politiker interviewt. Wie sind die denn dem Romancier Kumpfmüller begegnet?
Kumpfmüller: Na ja, da muss man natürlich sagen, dass ich von vornherein klugerweise, glaube ich, mich entschieden habe, nur Politiker zu sprechen, die nicht mehr im Amt sind. Denn in dem Moment, wo die im Amt sind, müssen die natürlich vorsichtig sein, was sie sagen und sind misstrauisch, haben Angst oder wie auch immer oder sind, was vielleicht das Wichtigere ist, noch verfangen sozusagen in einer bestimmten ritualisierten Rede. Meine Erfahrungen mit Politikern, die eben außer Amt waren, war, dass in den allermeisten Fällen die sehr offen waren und vor allen Dingen eins gesagt haben, und dem bin ich dann auch gefolgt, oder es war meine Vermutung, dass sie sehr genau wissen, was sie können und was sie nicht können und dass sie sich in diesem schmalen Feld, das sozusagen noch bleibt in einer postheroischen Zeit, darum bemühen, das irgendwie so gut zu machen, dass es irgendwie fair zugeht in der Gesellschaft. Sozusagen ein bisschen defensives, ein bisschen altgriechisches Politikverständnis, das hat mir gut gefallen.
Scholl: Wer waren denn die, oder gilt hier der Quellenschutz? Wollen Sie es nicht sagen?
Kumpfmüller: Na, da gilt der Quellenschutz, nicht, weil das jetzt ein besonderes Geheimnis ist, sondern weil es eigentlich nicht zur Sache tut. Es waren auch ein paar Politiker aus Österreich. Da hatte ich besseren Zugriff. Ich glaube, dass das aber was Allgemeines ist. Von daher ist es egal, wen man fragt.
Scholl: Der Schriftsteller Michael Kumpfmüller im Gespräch mit Deutschlandradio Kultur. Um Politik und Politiker geht es in seinem Roman "Nachricht an alle". Einen ersten kritisch-professionellen Leser hatten Sie in Wolfgang Schäuble himself? Vor gut einer Woche haben die Kollegen der Hamburger "Zeit" Sie mit dem Innenminister zusammengebracht, und der ist Ihnen gleich mal ins Kreuz gesprungen, indem er Ihnen vorwarf, lauter Klischees zu bedienen. Nicht sehr nett als erste Reaktion, oder?
Kumpfmüller: Ja, ich hab das natürlich versucht, sportlich zu nehmen und mir auch überlegt, woher das kommt. Er ist natürlich im Amt und hat sofort sozusagen als Reflex die Angst, dass man ihn angreift. Und bezogen auf den Roman, das habe ich jetzt schon öfter gemerkt, wenn man mit Politikern über Romane spricht, geht es immer um das Spiel, die wirkliche Wirklichkeit, das ist das, was die Politiker kennen, als ob die nicht auch erfunden wäre oder eine Selbstinszenierung. Und die wird dann gegen die Wirklichkeit des Romans ausgespielt.
Ich glaube, dass der Herr Schäuble das weniger gemacht hat, um mich zu ärgern, sondern weil er auch selber eine eigene Inszenierung im Sinne hatte. Und die hieß da, ach, wir haben doch gar nicht so viel Macht, und wir sind doch irgendwie ganz demokratisch gefesselt als Politiker. Und deshalb war sozusagen mein Roman eine Übertreibung, obwohl der ja auch nicht viel machen kann. Das habe ich, glaube ich, recht gut durchschaut, dass es da gar nicht um mich ging. Und ob er den Roman wirklich gelesen hat, habe ich bis zuletzt nicht gewusst.
Scholl: Das ist interessant, dass die Mächtigen immer beklagen, dass sie eigentlich gar nicht so mächtig sind. Gestern Abend haben Sie, Michael Kumpfmüller, mit Joschka Fischer, unserem ehemaligen Außenminister, diskutiert. Wie war denn dieses Gespräch?
Kumpfmüller: Da gibt es was Gemeinsames, also nicht zu Schäuble. Ich habe wiederum vor ein paar Tagen noch davor mit Gerhard Baum diskutiert. Je weiter die Leute vom Amt weg sind, umso offener sind sie, das kann man sagen. Auch Joschka Fischer war überraschend offen. Er hat den Roman gelesen. Wir haben auch darüber gesprochen. Am Ende kreiste das Gespräch trotzdem wieder um dieselbe Frage, dass Joschka Fischer sich eben mit meinem Protagonisten vergleicht und dann sagt, na ja, gegenüber meiner Wirklichkeit gibt es da eben Unterschiede. Aber es war ein sehr interessantes Gespräch.
Scholl: Aber auf das Politikerstatement warten Sie noch, dass einer sagt, ja, ja, ja, so ist es?
Kumpfmüller: Nein, darauf warte ich nicht.
Scholl: Nein?
Kumpfmüller: Ich freue mich jetzt ehrlich gesagt darauf, dass mal irgendwas kommt zur Sprache und nicht nur immer dieser Abgleich.
Scholl: Mit der Wirklichkeit?
Kumpfmüller: Mit dem Wirklichen, ja.
Scholl: Aber kommen wir noch mal auf das übergreifende Thema Politik und Literatur zu sprechen. Punktuell gab es ja natürlich auch früher schon deutsche Romane, in denen aktuelle Politik eine Rolle spielte. Friedrich Christian Delius hat in den 1980er Jahren eine ganze Trilogie zum deutschen Terrorismus vorgelegt. Heinrich Böll hat über die Bonner Republik geschrieben in "Frauen vor Flusslandschaft", 1985 war das. Und natürlich erinnern wir uns alle an die scharfe Kontroverse um Günter Grass "Das weite Feld", der Roman zur Deutschen Einheit. Wer allerdings wirklich fehlt, ist der Politiker als literarische Figur. Da muss man wirklich lange suchen, länger suchen, weit zurückgehen bis zu Wolfgangs Koeppens "Treibhaus", 1953, oder Joseph Breitbachs "Bericht über Bruno" in den 60er Jahren, der Roman. Wie erklären Sie sich eigentlich diese Scheu der Autoren? Der Reiz, der liegt doch eigentlich auf der Hand?
Kumpfmüller: Ja, würde ich auch sagen, und dafür gibt es meiner Meinung nach zwei Gründe. Das kann man auch in Koeppen sehen, der sozusagen für mich der Antipode ist, gegen den habe ich immer insgeheim angeschrieben, weil dessen Politikerroman, da handelt es sich ja um einen Bundestagsabgeordneten in der Wiederbewaffnungsdebatte, der da politisch unterliegt, der gegen die Wiederbewaffnung ist. Und die Pointe des Romans ist, dass er der gute, der Vertreter des Geistes am Ende nicht anders kann, als sich in den Rhein zu stürzen. Er muss sich umbringen. Das ist das alte Spiel, das alte deutsche Spiel, Geist versus Macht, die Macht ist schmutzig, und die Politik ist schmutzig und widerlich, und der Geist steht da drüber, aber ist ohnmächtig. Und das ist ja eine antipolitische, unpolitische, und wenn man genauer schaut, wenn man das durchzieht bis zum Stammtisch, auch eine undemokratische Haltung, finde ich jedenfalls. Das ist das eine.
Und dann kommt natürlich 68 ins Spiel, wo der Literatur aufgebürdet wurde, eine Weile lang, dass wenn man über Politik schreibt, das bedeute, dass man parteilich ist, sozusagen im Klassenkampf, sagen wir mal vereinfacht gesagt. Und davon hat sich die Literatur, glaube ich, in der Weise lange nicht erholt, dass viele zwar gesagt haben, wir wollen nicht mehr parteilich sein, aber nicht wussten, wie man dann anders literarisch ist. Und ich glaube, das ist die Chance vielleicht meiner Generation, dieser Zwischengeneration zwischen der sogenannten Generation Golf und den 68ern, schlagwortmäßig mal gesagt, dass wir noch ein Rest Idealismus haben im Hinblick auf das, was Politik vielleicht kann, aber anfangen, sie vielleicht mal so eine nüchterne Bestandsaufnahme zu machen. Und das ist ja, finde ich, die originäre Aufgabe von Literatur, dass sie darstellt, was ist und versucht, das nicht nur aufzubewahren, das wäre mir zu wenig, aber ein Versuch einer Analyse von Gegenwart.
Scholl: Ich fand ganz interessant, dass in vielen Passagen so manchmal eine Art Botschaft aufzuscheinen schien, wie ein so eingeschmuggelter Palimpsest, so ein verborgener Text, unter dem Text: Leute, begreift, dass Politik, dass Staat, Gesetzlichkeit, Verfassung, demokratische Prozesse euer ureigenes Ding sind. Verharrt nicht in dieser banalen Haltung, die da oben, wir da unten. Das dürfen wir uns eigentlich nicht leisten. Falsch gelesen?
Kumpfmüller: Das freut mich sehr, wenn Sie das sagen. Denn meine Erfahrung ist sehr gemischt, was die Reaktionen angeht, und je mehr die Leute an diesem einfachen Dingen - die Politiker da oben - drin hängen, der Ressentimentkiste, umso weniger sehen sie das. Wenn Sie es so sagen, dass das da drin steckt, aber nicht aufdringlich, aber dass das eine Botschaft ist, dann fühle ich mich ganz richtig verstanden.
Das ist das, was ich wollte, weil ich auch glaube, dass es eine Illusion ist zu sagen, dass Literatur immer gar nichts will und nichts darf. Jeder Text hat eine Botschaft, weil er sich an einen Leser richtet. Das ist eine Frage der Grammatik. Und wenn man am Ende die Leute begreifen würden, genau, wie Sie es, haben Sie wunderbar gesagt, dass es unser Interesse ist, sich dafür zu interessieren, dass es da um uns geht und nicht irgendwelche andere, die wir dann zu verachten haben, dann wäre es mir gelungen, einen politischen Roman zu schreiben.
Scholl: Besten Dank für Ihren Besuch und dieses Gespräch, Michael Kumpfmüller! Alles Gute für Sie und Ihr Buch!
Kumpfmüller: Danke!
Scholl: Wer jetzt Appetit hat auf "Nachricht an alle", das Buch ist frisch raus im Kiepenheuer & Witsch Verlag erschienen, 380 Seiten, zum Preis von 19,90 Euro. Hören können Sie Michael Kumpfmüller übrigens hier im Deutschlandradio Kultur im Rahmen unseres traditionellen "Bücherfrühlings" während der Leipziger Buchmesse. Am 15. und 16. März wird Michael Kumpfmüller aus "Nachricht an alle" lesen. Die genauen Anfangszeiten entnehmen Sie unserem Programmheft oder schauen im Internet auf unsere Veranstaltungsseiten www.dradio.de. Und dann noch diese Information, "Nachricht an alle" wird auch zum Hörspiel. Und Deutschlandradio Kultur wird es produzieren.
Michael Kumpfmüller: Guten Morgen!
Scholl: "Nachricht an alle" ist Ihr dritter Roman. Politik, nämlich deutsch-deutsche Wirklichkeiten, das hat schon bei Ihrem ersten eine Rolle gespielt, "Hampels Fluchten", den Kontext dazu bereitet. Nun gehen Sie aber mittenmang ins politische Geschehen: Ihr Held ist ein veritabler Innenminister. Wie kamen Sie auf Person und Stoff`?
Kumpfmüller: Ja, da gibt es mindestens zwei Antworten. Ich glaube, ich interessiere mich seit jeher für Stoffe, die mir erst mal nicht nahe liegen, eine bestimmte Sprache, wie man überhaupt über das schreiben kann. Es fordert mich heraus. In der politischen Sphäre ist es ja so, da stehen wir vor der seltsamen Situation, dass wir alles zu wissen meinen und trotzdem immer das Gefühl haben, es gäbe noch ein Geheimnis, dass wir entschlüsseln müssen.
Ja, das ist der eine Grund. Und der andere ist, wenn man literaturgeschichtlich guckt, ist es ja lange nicht mehr passiert, dass jemand versucht hat, über Politik zu schreiben, in dem Sinne auch, dass die Protagonisten des politischen Geschäfts sozusagen eine eigene Stimme kriegen. Ja, das hat mich interessiert, ob man das kann und wie man das kann. Wobei mein Roman ja beides ist, eine Arbeitsplatzbeschreibung von Politik und irgendwie auch eine Bestandsaufnahme so unserer gesellschaftlichen Situation.
Scholl: Der ministeriale Held, der hat einen Namen, Selden heißt er. Dennoch wird mit Absicht vermieden, deutsche Verhältnisse abzubilden, etwa das Land, in dem Ihr Roman spielt, wird nicht genannt, irgendwo in Europa. Haben Sie diese Anonymität gewählt, um dem Eindruck eines politischen Schlüsselromans im Vorhinein zu begegnen? Natürlich stand schon irgendwie zu lesen, ja, das könnte wohl Otto Schily irgendwie so ein wenig das Vorbild sein für diesen Innenminister.
Kumpfmüller: Ja, das habe ich natürlich ganz bewusst so gemacht, weil ja das Schlüsselromanspiel ja eigentlich ziemlich langweilig ist. Da kommt am Ende dann raus, er ist es gewesen. Das ist so ein Entdeckungsspiel. Aber das ist eigentlich für einen Literaten ziemlich langweilig. Außerdem ging es mir darum, den Blick wirklich auf so eine westeuropäische Situation zu weitern. Deshalb gehen ja auch Erfahrungen anderer Länder in den Roman ein. Wenn man sagen würde, es ist ein deutscher Roman, müsste man sagen, ja, wieso, aber wir hatten doch noch gar keine Unruhen in den Vorstädten usw. Da war mein Interesse weiter, weil ich glaube, dass wir ähnliche Probleme haben in Westeuropa, und deshalb durfte das kein Schlüsselroman sein. Obwohl natürlich klar ist, dass ich von Deutschland her schreibe und da bestimmte Erfahrungen eingehen, die vielleicht in anderen Ländern so nicht vorliegen.
Scholl: Man weiß und hört, dass Sie für diesen Roman viel recherchiert haben, nicht nur den Fernseher eingeschaltet und die Zeitung aufgeblättert, sondern auch direkt Politiker interviewt. Wie sind die denn dem Romancier Kumpfmüller begegnet?
Kumpfmüller: Na ja, da muss man natürlich sagen, dass ich von vornherein klugerweise, glaube ich, mich entschieden habe, nur Politiker zu sprechen, die nicht mehr im Amt sind. Denn in dem Moment, wo die im Amt sind, müssen die natürlich vorsichtig sein, was sie sagen und sind misstrauisch, haben Angst oder wie auch immer oder sind, was vielleicht das Wichtigere ist, noch verfangen sozusagen in einer bestimmten ritualisierten Rede. Meine Erfahrungen mit Politikern, die eben außer Amt waren, war, dass in den allermeisten Fällen die sehr offen waren und vor allen Dingen eins gesagt haben, und dem bin ich dann auch gefolgt, oder es war meine Vermutung, dass sie sehr genau wissen, was sie können und was sie nicht können und dass sie sich in diesem schmalen Feld, das sozusagen noch bleibt in einer postheroischen Zeit, darum bemühen, das irgendwie so gut zu machen, dass es irgendwie fair zugeht in der Gesellschaft. Sozusagen ein bisschen defensives, ein bisschen altgriechisches Politikverständnis, das hat mir gut gefallen.
Scholl: Wer waren denn die, oder gilt hier der Quellenschutz? Wollen Sie es nicht sagen?
Kumpfmüller: Na, da gilt der Quellenschutz, nicht, weil das jetzt ein besonderes Geheimnis ist, sondern weil es eigentlich nicht zur Sache tut. Es waren auch ein paar Politiker aus Österreich. Da hatte ich besseren Zugriff. Ich glaube, dass das aber was Allgemeines ist. Von daher ist es egal, wen man fragt.
Scholl: Der Schriftsteller Michael Kumpfmüller im Gespräch mit Deutschlandradio Kultur. Um Politik und Politiker geht es in seinem Roman "Nachricht an alle". Einen ersten kritisch-professionellen Leser hatten Sie in Wolfgang Schäuble himself? Vor gut einer Woche haben die Kollegen der Hamburger "Zeit" Sie mit dem Innenminister zusammengebracht, und der ist Ihnen gleich mal ins Kreuz gesprungen, indem er Ihnen vorwarf, lauter Klischees zu bedienen. Nicht sehr nett als erste Reaktion, oder?
Kumpfmüller: Ja, ich hab das natürlich versucht, sportlich zu nehmen und mir auch überlegt, woher das kommt. Er ist natürlich im Amt und hat sofort sozusagen als Reflex die Angst, dass man ihn angreift. Und bezogen auf den Roman, das habe ich jetzt schon öfter gemerkt, wenn man mit Politikern über Romane spricht, geht es immer um das Spiel, die wirkliche Wirklichkeit, das ist das, was die Politiker kennen, als ob die nicht auch erfunden wäre oder eine Selbstinszenierung. Und die wird dann gegen die Wirklichkeit des Romans ausgespielt.
Ich glaube, dass der Herr Schäuble das weniger gemacht hat, um mich zu ärgern, sondern weil er auch selber eine eigene Inszenierung im Sinne hatte. Und die hieß da, ach, wir haben doch gar nicht so viel Macht, und wir sind doch irgendwie ganz demokratisch gefesselt als Politiker. Und deshalb war sozusagen mein Roman eine Übertreibung, obwohl der ja auch nicht viel machen kann. Das habe ich, glaube ich, recht gut durchschaut, dass es da gar nicht um mich ging. Und ob er den Roman wirklich gelesen hat, habe ich bis zuletzt nicht gewusst.
Scholl: Das ist interessant, dass die Mächtigen immer beklagen, dass sie eigentlich gar nicht so mächtig sind. Gestern Abend haben Sie, Michael Kumpfmüller, mit Joschka Fischer, unserem ehemaligen Außenminister, diskutiert. Wie war denn dieses Gespräch?
Kumpfmüller: Da gibt es was Gemeinsames, also nicht zu Schäuble. Ich habe wiederum vor ein paar Tagen noch davor mit Gerhard Baum diskutiert. Je weiter die Leute vom Amt weg sind, umso offener sind sie, das kann man sagen. Auch Joschka Fischer war überraschend offen. Er hat den Roman gelesen. Wir haben auch darüber gesprochen. Am Ende kreiste das Gespräch trotzdem wieder um dieselbe Frage, dass Joschka Fischer sich eben mit meinem Protagonisten vergleicht und dann sagt, na ja, gegenüber meiner Wirklichkeit gibt es da eben Unterschiede. Aber es war ein sehr interessantes Gespräch.
Scholl: Aber auf das Politikerstatement warten Sie noch, dass einer sagt, ja, ja, ja, so ist es?
Kumpfmüller: Nein, darauf warte ich nicht.
Scholl: Nein?
Kumpfmüller: Ich freue mich jetzt ehrlich gesagt darauf, dass mal irgendwas kommt zur Sprache und nicht nur immer dieser Abgleich.
Scholl: Mit der Wirklichkeit?
Kumpfmüller: Mit dem Wirklichen, ja.
Scholl: Aber kommen wir noch mal auf das übergreifende Thema Politik und Literatur zu sprechen. Punktuell gab es ja natürlich auch früher schon deutsche Romane, in denen aktuelle Politik eine Rolle spielte. Friedrich Christian Delius hat in den 1980er Jahren eine ganze Trilogie zum deutschen Terrorismus vorgelegt. Heinrich Böll hat über die Bonner Republik geschrieben in "Frauen vor Flusslandschaft", 1985 war das. Und natürlich erinnern wir uns alle an die scharfe Kontroverse um Günter Grass "Das weite Feld", der Roman zur Deutschen Einheit. Wer allerdings wirklich fehlt, ist der Politiker als literarische Figur. Da muss man wirklich lange suchen, länger suchen, weit zurückgehen bis zu Wolfgangs Koeppens "Treibhaus", 1953, oder Joseph Breitbachs "Bericht über Bruno" in den 60er Jahren, der Roman. Wie erklären Sie sich eigentlich diese Scheu der Autoren? Der Reiz, der liegt doch eigentlich auf der Hand?
Kumpfmüller: Ja, würde ich auch sagen, und dafür gibt es meiner Meinung nach zwei Gründe. Das kann man auch in Koeppen sehen, der sozusagen für mich der Antipode ist, gegen den habe ich immer insgeheim angeschrieben, weil dessen Politikerroman, da handelt es sich ja um einen Bundestagsabgeordneten in der Wiederbewaffnungsdebatte, der da politisch unterliegt, der gegen die Wiederbewaffnung ist. Und die Pointe des Romans ist, dass er der gute, der Vertreter des Geistes am Ende nicht anders kann, als sich in den Rhein zu stürzen. Er muss sich umbringen. Das ist das alte Spiel, das alte deutsche Spiel, Geist versus Macht, die Macht ist schmutzig, und die Politik ist schmutzig und widerlich, und der Geist steht da drüber, aber ist ohnmächtig. Und das ist ja eine antipolitische, unpolitische, und wenn man genauer schaut, wenn man das durchzieht bis zum Stammtisch, auch eine undemokratische Haltung, finde ich jedenfalls. Das ist das eine.
Und dann kommt natürlich 68 ins Spiel, wo der Literatur aufgebürdet wurde, eine Weile lang, dass wenn man über Politik schreibt, das bedeute, dass man parteilich ist, sozusagen im Klassenkampf, sagen wir mal vereinfacht gesagt. Und davon hat sich die Literatur, glaube ich, in der Weise lange nicht erholt, dass viele zwar gesagt haben, wir wollen nicht mehr parteilich sein, aber nicht wussten, wie man dann anders literarisch ist. Und ich glaube, das ist die Chance vielleicht meiner Generation, dieser Zwischengeneration zwischen der sogenannten Generation Golf und den 68ern, schlagwortmäßig mal gesagt, dass wir noch ein Rest Idealismus haben im Hinblick auf das, was Politik vielleicht kann, aber anfangen, sie vielleicht mal so eine nüchterne Bestandsaufnahme zu machen. Und das ist ja, finde ich, die originäre Aufgabe von Literatur, dass sie darstellt, was ist und versucht, das nicht nur aufzubewahren, das wäre mir zu wenig, aber ein Versuch einer Analyse von Gegenwart.
Scholl: Ich fand ganz interessant, dass in vielen Passagen so manchmal eine Art Botschaft aufzuscheinen schien, wie ein so eingeschmuggelter Palimpsest, so ein verborgener Text, unter dem Text: Leute, begreift, dass Politik, dass Staat, Gesetzlichkeit, Verfassung, demokratische Prozesse euer ureigenes Ding sind. Verharrt nicht in dieser banalen Haltung, die da oben, wir da unten. Das dürfen wir uns eigentlich nicht leisten. Falsch gelesen?
Kumpfmüller: Das freut mich sehr, wenn Sie das sagen. Denn meine Erfahrung ist sehr gemischt, was die Reaktionen angeht, und je mehr die Leute an diesem einfachen Dingen - die Politiker da oben - drin hängen, der Ressentimentkiste, umso weniger sehen sie das. Wenn Sie es so sagen, dass das da drin steckt, aber nicht aufdringlich, aber dass das eine Botschaft ist, dann fühle ich mich ganz richtig verstanden.
Das ist das, was ich wollte, weil ich auch glaube, dass es eine Illusion ist zu sagen, dass Literatur immer gar nichts will und nichts darf. Jeder Text hat eine Botschaft, weil er sich an einen Leser richtet. Das ist eine Frage der Grammatik. Und wenn man am Ende die Leute begreifen würden, genau, wie Sie es, haben Sie wunderbar gesagt, dass es unser Interesse ist, sich dafür zu interessieren, dass es da um uns geht und nicht irgendwelche andere, die wir dann zu verachten haben, dann wäre es mir gelungen, einen politischen Roman zu schreiben.
Scholl: Besten Dank für Ihren Besuch und dieses Gespräch, Michael Kumpfmüller! Alles Gute für Sie und Ihr Buch!
Kumpfmüller: Danke!
Scholl: Wer jetzt Appetit hat auf "Nachricht an alle", das Buch ist frisch raus im Kiepenheuer & Witsch Verlag erschienen, 380 Seiten, zum Preis von 19,90 Euro. Hören können Sie Michael Kumpfmüller übrigens hier im Deutschlandradio Kultur im Rahmen unseres traditionellen "Bücherfrühlings" während der Leipziger Buchmesse. Am 15. und 16. März wird Michael Kumpfmüller aus "Nachricht an alle" lesen. Die genauen Anfangszeiten entnehmen Sie unserem Programmheft oder schauen im Internet auf unsere Veranstaltungsseiten www.dradio.de. Und dann noch diese Information, "Nachricht an alle" wird auch zum Hörspiel. Und Deutschlandradio Kultur wird es produzieren.