Kunst als Strukturförderung

Von Ursula Welter |
Einst war die Region um die nordfranzösische Stadt Lens das Herz des Kohlebergbaus in Frankreich. Nach dem Ende der Kohleförderung ging es hier wirtschaftlich bergab. Große Hoffnungen werden deshalb in die Zweigstelle des Pariser Louvre gesetzt, die nun von Präsident Hollande eröffnet wurde.
Überall im Stadtbild, an passender und unpassender Stelle, die Frau mit der Jakobinermütze auf dem Kopf, die Trikolore in der Hand – Eugène Delacroix' Gemälde "Die Freiheit führt das Volk" ist zu dem Symbol der musealen Schöpfung in der französischen Provinz auserkoren worden.

Das Meisterwerk hing bis vor kurzem im Louvre in Paris, jetzt hängt es im Louvre in Lens, 200 Kilometer nördlich von Paris, 40 Kilometer südlich von Lille. Die geografische Lage, die Nachbarschaft zu den Beneluxstaaten, zu Großbritannien, die Anbindung ans Hochgeschwindigkeitsnetz, all das wird von den Louvre-Leuten gepriesen, aber die Landschaft hat auch ihre tristen Seiten, und die Armut in der Stadt, in der Region ist mit Händen zu greifen.

Das alte Kohlebecken setzt hohe Erwartungen in das neue Museum, das nicht nur mit der barbusigen Freiheitsikone Delacroix' locken will:

"Wir sind hier im Louvre", sagt Henri Loyrette, der Direktor der Zentrale in Paris, "wir zeigen die Spannweite unserer Werke, geografisch, chronologisch, wir stellen uns vor."

Das Museum ist ein Experiment. Äußerlich erstreckt es sich über fünf ebenerdige Gebäude, die sich, Flugzeughangar gleich, an das alte Minengelände schmiegen. Konstruktionen aus Glas und Metall, entworfen vom japanischen Architektenbüro SANAA. 20 Hektar groß ist das Gelände, das die Stadt Lens eingebracht hat, um die Zweigstelle des Louvre eröffnen zu können.

Die Landschaftsarchitekten sind noch nicht fertig, noch fahren die Bagger, noch dominiert draußen der Schlamm auf den Zuwegungen.

"Für uns ist das hier ein Ort des Experimentierens, ein Labor", sagt Kurator Vincent Pommerade, der für die Gemäldesammlung des Louvre verantwortlich ist. Viele Meisterwerke wurden von Paris nach Lens gebracht, zum Auftakt wird eine Renaissance-Ausstellung unter anderem Werke von Raphael, Dürer, Cranach, Pisanello zeigen, ein klassisches Ausstellungskonzept in diesem Teil der Louvre-Filiale.

Das Experiment, das Labor, das ist die sogenannte "Galerie der Zeiten". Ein 120 Meter langer, breiter Schlauch, 3.200 Quadratmeter Ausstellungsfläche, die gläserne Transparenz der übrigen Gebäudeteile fehlt hier. Die Seiten sind mit Aluminium verkleidet, darin spiegeln sich die 205 Werke der Antike, des Mittelalters, der Moderne, die thematisch angeordnet wurden, in Vitrinen, auf Sockeln, an eingezogenen Wandelementen.

Die Außenwände sind bewusst leer, nur an der rechten oberen Wandkante eine Zeitachse. Adrien Gardère ist für dieses Konzept verantwortlich:

"Je weiter man in der Ausstellung voranschreitet, desto weiter geht es in der Zeit voran. Ein einfaches Prinzip, das den Besuchern erlaubt, die Werke zeitlich einzuordnen."

Am Ende dieses Weges prangt Delacroix, bis dahin eine muntere Mischung an Meisterwerken aus dem Louvre.

Vincent Pommerade: "Es sind Meisterwerke, ja, aber gleichzeitig stehen diese Werke eben ausgezeichnet für ein Thema, deshalb haben wir sie ausgesucht.
Nehmen wir Baldassare Castiglione von Raphael, wir wollten die Darstellung der Intellektuellen in der Renaissance zeigen, und dafür steht dieses Werk."

Und so hängt es in Lens nun neben anderen Intellektuellendarstellungen dieser Zeit.

"Wir haben in erster Linie an die Öffentlichkeit gedacht, die sich mit diesen Werken nicht auskennt, wir wollen die Einordnung erleichtern". Für Forscher sei die "Galerie der Zeiten" nicht gemacht, fügt der Kurator vorsichtshalber hinzu, sollte die Fachwelt die Stirn runzeln.

Neben den Texterläuterungen an der Wand in Englisch, Französisch und, aufgrund der geografischen Lage, auch in Flämisch sollen die Besucher mit Audio-Führern und mithilfe anwesender Mediatoren durch die Epochen der Kunstgeschichte reisen.

Am Ende des langen Schlauchs öffnet sich die Museumslandschaft dann wieder, der "Gläserne Pavillon" gibt den Blick frei auf die Umgebung, die Arbeiterstadt, die bescheidenen, backsteinroten Häuser der einstigen Kumpel, die Halden der stillgelegten Zechen.

"Das hier ist als eine Art Mischung gedacht, zur Entspannung nach der Reise durch die Kunstgeschichte mit den großen Werken des Louvre", erklärt Chefkonservator Pierre-Yves le Pogam, "und wir wollen hier das Thema 'Zeit' vertiefen, mit Werken der Region Pas de Calais, die so gelitten hat durch Krieg und den Niedergang des Bergbaus, die aber durchaus reich ist an künstlerischem Erbe."

Die mannshohen Puppen der karnevalistisch anmutenden Umzüge der Region sind hier zu sehen, neben Video-Installationen und Grafiken des 19. Jahrhunderts, eine bunte Mischung.

Der Louvre Lens soll ein Beispiel sein für "Dezentralisierung, Demokratisierung". Der Staatspräsident persönlich hat das Museum eingeweiht, die Hoffnungen sind hoch gesteckt. Was die Museumsmacher aus Paris und die Politiker der Region allerdings ärgert, ist, dass manche sagen, hier öffne ein "Louvre für die Sch'tis", für das Nordvolk, von dem die Pariser und die Südfranzosen behaupten, es sei sprachlich und überhaupt ein wenig rückständig.

"Das ist Karikatur", sagt Bürgermeister Guy Delcourt, dessen Eltern unter Tage gearbeitet haben und mit 48 und 52 Jahren an der Staublunge gestorben sind. Karikatur und weit entfernt von den Realitäten, denn die ehemalige Bergwerksregion sei eine Gegend mit vielen Vorzügen, die es zu entdecken gelte, auch, aber nicht nur wegen des neuen Louvre in Lens.
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