Kunst aus dem sowjetischen Untergrund

Von Volkhard App |
Von der politischen Nomenklatura unerwünscht und von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet begannen die Moskauer Konzeptualisten bereits in den 60er Jahren mit ihrer Arbeit. Ihre Aktionen, Installationen und Texte standen nahezu zwangsläufig im Widerspruch zum System. Die Frankfurter Schirn gibt nun einen Überblick über "Die totale Aufklärung - Moskauer Konzeptkunst 1960-90".
Russisch müsste man können, denn Ilya Kabakov hat große Bildflächen ausschließlich mit Schrift bedeckt – gezeigt wird ein fingiertes häusliches Protokoll von 1980, das Aufschluss darüber gibt, wann welche Personen am Sonntagabend zu Gast waren, welche Kleidung sie trugen und was sie aßen - Bratkartoffeln, Pastete oder Fisch. Ein ironischer Hieb gegen eine weitgehend reglementierte und kontrollierte Gesellschaft.

Komar und Melamid wiederum präsentieren leere, weiße Rechtecke auf leuchtend rotem Grund, am Ende steht ein Ausrufezeichen: Die allgegenwärtigen Parolen werden hier buchstäblich als Leer-Formeln entlarvt.

Aufmüpfigen Künstlern wurden repräsentative Ausstellungsmöglichkeiten verwehrt, darin bestand ihre gemeinsame Erfahrung. Aber bildeten sie - diese Maler, Kritiker und sonstigen klugen Köpfe - wirklich eine Gruppe? Boris Groys, Initiator dieser Ausstellung, war in den siebziger Jahren einer von ihnen:

"Ja, das war unbedingt eine Gruppe, die Solidarität war sehr ausgeprägt unter den Bildenden Künstlern, Essayisten und Poeten, die diese Gruppe angeführt haben. Man traf sich regelmäßig, trank Wein, trug Gedichte vor und zeigte Bilder. Meine Rolle in jener Zeit war wichtig, weil ich in dieser Gruppe als Einziger theoretische Schriften über sie verfasste und ich war dort generell wahrscheinlich der einzige Theoretiker."

In der Schirn ist so eine Zeitreise möglich: zurück auf einen fernen Planeten, in eine abgeschlossene Phase der Kunstgeschichte - zu Protagonisten, die sich im kleinen Kreis an der Subversion versuchten: nicht durch politische Pamphlete, sondern mit ironisch-verspielten Ideen, textverliebt und kommentarlustig, für abgedrehte Einfälle empfänglich und für intellektuelle Verstiegenheit.

Wobei der im Namen schon angelegte Vergleich dieser "Moskauer Konzeptualisten” mit Konzeptkünstlern westlicher Prägung irreführend sein könnte: Für die Aktiven im Osten war der Gegner eben nicht der mächtige Markt mit seinem kommerzialisierten Kunstbetrieb. Um Strategien des Überlebens von Kunst, den Zugewinn von Freiräumen, ging es allerdings im Osten und im Westen. Man fragt sich, mit welchem Publikum die Konzeptualisten in Moskau überhaupt rechnen durften. Kuratorin Martina Weinhart:

"Ihre Öffentlichkeit in Russland war eine sehr abgeschlossene, eher eine private. Danach aber gab es die ‚zweite‘ Öffentlichkeit, eine westliche. Der Konzeptualismus ist sehr früh auf verschiedenen Kanälen in den Westen gekommen - durch Diplomaten oder andere Leute, die Kontakte hatten. Und ist sehr früh hier schon rezipiert worden, aber immer nur in kleinen Ausschnitten und fast als etwas Exotisches."

Der Zugang zu dieser Kunst fällt nicht gerade leicht, aber Lust- und Erkenntnisgewinn nehmen in Frankfurt beim wiederholten Rundgang doch erheblich zu. Da erfanden Moskauer Künstler die Biografie eines Meisters aus dem 19. Jahrhundert und amüsierten damit die winzige Öffentlichkeit, auf die sie damals hoffen durften. Und Yuri Albert teilte auf einer Texttafel mit, dass er verwirrt sei und sich in einer künstlerischen Krise befinde. Zu den Stärken dieser kleinen Gruppe zählten neben pointierten Bildern phantasievolle Aktionen. Weinhart:

"Das Projekt ‘Reisen aus der Stadt‘ zum Beispiel bestand aus einer ganzen Serie von Aktionen - dieser Kreis hat sich immer wieder zu Veranstaltungen auf dem Lande verabredet: im Schnee, auf der Wiese und im Wald. Man hängte für kurze Zeit Parolen auf, die außer dieser Gruppe niemand sah: Parolen, mit denen man die offizielle Sprache des sowjetischen Staates ironisieren und torpedieren konnte."

Da standen sie also 1977 in schneebedeckter Landschaft und entrollten ein langes rotes Transparent mit dem Text: "Ich beschwere mich über nichts und fast gefällt es mir hier, wenn ich auch nie zuvor hiergewesen bin und über diesen Ort nichts weiß.”

Vor Jahren wurde in der Schirn unter dem Titel "Traumfabrik Kommunismus” der sozialistische Realismus gezeigt. Boris Groys hat seine neue Schau "Die totale Aufklärung” genannt:

"Marxismus und Kommunismus, die in der Sowjetunion geherrscht haben, haben sich selbst verstanden als Kinder der Aufklärung - und sind es ja auch. Der Marxismus ist sozusagen ihr legitimes Kind, hatte aber seine eigenen Vorurteile, Utopien und Illusionen. Das, was wir gemacht haben, war eine Aufklärung über die Aufklärung."

Und die Reaktion des Staates? Die Obrigkeit ließ einmal bei einer inoffiziellen Ausstellung im Grünen Bulldozer auffahren und die ungeliebte Kunst ganz einfach abräumen. Aber diese Nachrichten haben im Westen seinerzeit vielleicht doch ein falsches Bild von der staatlichen Haltung vermittelt. Groys:

"Solange kein öffentliches Auftreten vorgesehen war, keine Provokation, keine Demonstration in Richtung Westen, wurden die Gruppen toleriert, von denen es sehr viele gab. Sie galten als ‘notwendiges Übel‘: wenn man in urbanen Zentren lebt, muss man eine solche Kultur unter Umständen tolerieren."

"Am Rande” hieß bezeichnenderweise die erste Einzelausstellung Kabakovs Mitte der achtziger Jahre im Westen. Dies eben war das Lebensgefühl der kritischen Köpfe. Und Viktor Pivovarov beschrieb 1975 auf großen poetischen Tafeln den Tagesablauf und die Träume eines "einsamen Menschen”, es sind besonders schöne Exponate.

Als Alexander Kosolapov 1993 Lenins stilisiertes Konterfei mit dem Schriftzug von Coca Cola zusammen ins Bild setzte, war die Sowjetunion bereits kollabiert. Einige dieser Künstler sind bei uns seither in bedeutenden Einzelausstellungen gewürdigt worden. Die Frankfurter Schau weist mit ihrem Rückblick noch einmal auf den historischen Zusammenhang hin, das ist ihr großes Verdienst.

Service: Die Ausstellung "Die totale Aufklärung - Moskauer Konzeptkunst 1960-90" ist vom 21. Juni bis zum 14. September 2008 in der Schirn / Kunsthalle Frankfurt zu sehen.