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Kollision von Meinungen ist keine Kritik
37:07 Minuten
Kritisches Denken steht hoch im Kurs. Dinge konsequent zu hinterfragen, gehöre zu unserer "kulturellen DNA", sagt der Philosoph David Lauer. Doch in vielen Debatten prallen Meinungen bloß unversöhnlich aufeinander. Wie viel ist daran noch Kritik?
Ein kritischer Geist, eine mündige Bürgerin, wer möchte das nicht sein? Kritisches Denken gehört zum Bildungsauftrag von Schulen und Universitäten. Und auch in der Öffentlichkeit ist Kritik allgegenwärtig. Nicht immer scheint allerdings das Gleiche damit gemeint zu sein.
Erstarrt im Beharren auf einem Standpunkt
Leute, die die Klimaforschung anzweifeln und bestreiten, dass die Menschheit einen nennenswerten Einfluss auf den Klimawandel hat, berufen sich dabei gern mit geradezu aufklärerischem Pathos auf das Prinzip des Selberdenkens. Oder wenn irgendwo in einem sozialen Netzwerk ein Empörungssturm wütet, dann heißt es regelmäßig, Kritik müsse man eben aushalten können. Aber handelt es sich dabei wirklich um Kritik? Und wenn ja, setzt sie irgendetwas in Bewegung? Oft erscheinen die Fronten völlig erstarrt im Beharren auf dem jeweils eigenen Standpunkt.
"Viele der Dinge, die heutzutage unter Kritik laufen, sind im eigentlichen Sinne keine kritischen Praktiken", sagt der Philosoph David Lauer. Zwar stehe Kritik in unserer Gesellschaft hoch im Kurs. "Das Ideal, dass Kritik zu üben und auch Kritik auszuhalten zu einem redlichen Menschsein dazugehört, ist weitgehend unhinterfragt", so Lauer. Ein Erbe der Aufklärung – nach wie vor gelte die Devise Immanuel Kants, der Mensch möge sich seines eigenen Verstandes bedienen, ohne die Leitung eines anderen, so Lauer:
"Wir sollen nicht blind glauben, was andere uns sagen, sondern wir sollen kritisch sein, selber denken, das ist in unsere kulturelle DNA eingegangen."
Fetischismus der eigenen Meinung
Doch in der Praxis erfahre die Kunst des Kritisierens trotz dieses gern beschworenen Anspruchs einen Niedergang. Grundlegende Maßstäbe gingen verloren, so Lauer: "Kritik sollte informiert sein, sie sollte sich selbst rechtfertigen können, sie muss grundsätzlich offen sein für Selbstkritik." Doch gerade an der Bereitschaft, Kritik nicht nur selbst auszuteilen, sondern auch anzunehmen, fehle es heute in vielen öffentlichen Auseinandersetzungen.
Einen Grund dafür sieht Lauer in einer Haltung, die er als "Fetischismus der eigenen Meinung" bezeichnet. Viele Menschen betrachteten ihre Meinung als ein unantastbares persönliches Gut, das ihnen quasi von Natur aus zugehöre: "Man hat seinen Meinungen, so wie man bestimmte Eltern hat. Damit geht tendenziell das Bild einher, dass man für seine Meinung auch nichts kann." Dass man sich seine Meinungen hingegen selbst bilde "und deswegen dafür auch kritisiert und zur Verantwortung gezogen werden kann", gerate dabei völlig aus dem Blick, so Lauer.
Unantastbarkeit des Selbstbilds
Ein zweites Hindernis für eine anspruchsvolle kritische Auseinandersetzung erkennt Lauer in einer bestimmten Form des Identitätsdenkens: "Das ist die Idee, dass zu mir als Person ein bestimmtes Bild von mir selbst gehört, eine Selbstkonzeption, die meine Identität betrifft." Mit dieser Überzeugung sei häufig die Auffassung verbunden, dass diese Meinungen, die eine Person über sich selbst hegt, von jeder Kritik ausgenommen sein müssen.
Diese Haltung gerate unweigerlich in Konflikt mit einer kritischen Herangehensweise an die Welt und das soziale Miteinander, so Lauer. Denn sie führe dazu, dass der oder die Betreffende "eine kritische Infragestellung dieser Art von Kernmeinungen über das eigene Selbst nur noch als Angriff auf die eigene Person und als Verweigerung von Respekt" empfinden könne.
Verweigerung des Dialogs
Bringe ich aber Anerkennung und Respekt für ein Gegenüber nicht gerade dadurch zum Ausdruck, dass ich ihn oder sie als eine Person anspreche, von der ich annehme, dass sie sich selbst hinterfragen kann, und die Freiheit hat, sich selbst zu erklären? Gerade diese Überzeugung sei eine Grundvoraussetzung jeder auf kritisches Denken gegründeten Weltsicht, sagt Lauer. Wenn sie verloren gehe, werde es schwierig, "einen kritischen Dialog als etwas zu sehen, wo Freiheit gelebt und Anerkennung verwirklicht wird".
Erst im Dialog kommt Kritik für Lauer überhaupt zur Vollendung. "Kritik ist eine Art von Beziehungsgeschehen", betont der Philosoph. Jede anspruchsvolle Kritik sei "ein Aufruf für einen Gesprächspartner oder eine Gesprächspartnerin, sich zu verantworten, sich zu rechtfertigen, sich zu verteidigen". Eine Kritik, die sich darauf beschränke, dass jemand lauthals seine Meinung über eine Person kundtue – und dann weggehe, ohne eine Antwort oder Stellungnahme überhaupt abzuwarten, habe sich damit schon selbst verfehlt.
Leider sei in vielen derzeit besonders hitzig geführten Auseinandersetzungen – etwa über die richtigen Antworten auf den Klimawandel oder auf die Coronapandemie – genau diese Art von Abschottung zu beobachten, sagt Lauer: "Kritik in einem ernsthaften Sinne findet hier nicht statt, sondern nur gegenseitiges einander für irre erklären."
(fka)