Kunst, Dissidenten und Widerstand

Das Haus der Kunst in München hat den Fall Ai Weiwei in einer Diskussion einer umfassenderen geopolitischen Entwicklung gewidmet. Ist das westliche Kunstsystem mit Forderung nach Meinungsfreiheit glaubwürdig?, war eine der Fragen, um die es ging.
Okwui Enwezor: "Unser Thema heute Abend ist ein fesselndes Thema, das uns alle in den vergangenen Wochen und Monaten beschäftigt hat: Es geht um den Platz, den der Künstler, der öffentliche Intellektuelle, in Gesellschaften einnimmt, die sich im Wandel befinden. Und darum, wie diese Gesellschaften diesen Wandel bewältigen."

Okwui Enzewor nahm sich bei seinem ersten öffentlichen Auftritt als künftiger Direktor des Münchner Hauses der Kunst ein vertracktes Thema vor: die Debatte um den regimekritischen chinesischen Künstler, Architekten und Aktivisten Ai Weiwei.

Das Anliegen Enwezors: Auf dem Podium die unterschiedlichsten Stimmen ins Gespräch bringen. Chinesische und internationale Stimmen, Stimmen aus der Kunst mit Stimmen aus der Wissenschaft. So nahm die Juristin und China-Expertin Flora Sapio von Universität Würzburg Stellung zu Ai Weiweis rechtlicher Lage.

Flora Sapio: "”Ai Weiwei ist zu einem Symbol dafür geworden wie es aussieht, wenn die Macht hemmungslos ihre Interessen verfolgt. In diesem Fall gewährleisten gesetzlich verankerte Rechte keinen Schutz. Die chinesischen Rechte gewährleisten Ai Weiwei keine Sicherheit. Und sie können auch keinem Anderen Schutz garantieren, der den gleichen Kampf wie Ai Weiwei gegen das Regime aufnimmt.""

Die Stimmen aus der Kunst hingegen plädierten dafür, Ai Weiwei differenzierter zu betrachten. Der chinesische Kunsthistoriker Gao Minglu, der allerdings in den USA lehrt, fragte nach dem künstlerischen Wert von Ai Weiweis Großinstallationen.

Gao Minglu: "”Wie verhalten sich Ai Weiweis politische Statements zu seiner Kunst? Wie ist seine Kunst zu bewerten? Wenn wir sie näher betrachten, fällt als Erstes die gewaltige Größe vieler Kunstwerke ins Auge. Kunstwerke wie die Millionen Sonnenblumenkerne aus Keramik in der Tate Gallery in London. Ai Weiwei benötigt unzählige Arbeiter, um das herzustellen. Mit scheint es, dass Ai Weiwei sich der sozialistischen Methode der Gigantomanie bedient, um den Sozialismus zu bekämpfen.""

Und auch der Exilchinese Hou Hanru, Kunsthistoriker am San Francisco Art Institute, gemahnte zu Vorsicht vor einer übereilten Solidarisierung mit Ai Weiwei als Kämpfer gegen das Regime. Auch regimekritische Propaganda sei vor allem – Propaganda.

Hou Hanru: "In dieser verworrenen Situation, in der wir uns heute befinden, wenn wir versuchen zu verstehen, was in China passiert und welche Rolle Ai Weiwei dabei spielt, schlage ich vor, von einem Deutschen zu lernen, der viel von China gelernt hat: Von Bertolt Brecht. Sein Ratschlag der Distanzierung kann helfen. Wir befinden uns in einem historischen Moment, in dem wir Abstand nehmen und die Komplexität nüchtern betrachten müssen, anstatt übereilt irgendeiner Propaganda auf den Leim zu gehen."

Es war eine inspirierende Podiumsdiskussion, gerade weil sie zeigte, wie schwierig der Blick von Außen auf China, wie verworren die Situation ist. Diese Verwirrung thematisierte auch der in Deutschland lebende Journalist und China-Experte Shi Ming. Doch so verwirrend die Situation auch schein mag: Ai Weiwei hat seiner Ansicht nach Großes geleistet, indem er mit seinen Fragen und seiner kritischen Haltung den Chinesen die Geschichte gab, die die Propaganda der Partei ihnen nicht zu geben vermag.

Shi Ming: "”Vielleicht kennen Sie die Geschichte vom Grasschlammpferd. Dies ist eine Fantasiegeschichte, mit der Ai Weiwei und viele andere Menschen in China es geschafft haben, die Internetzensur zu umgehen und gegen die Unterdrückung durch die Zensoren und das Regime zu protestieren. Ich frage sie: Warum haben zehn Millionen Chinesen Ai Weiweis Blog gelesen, als es ihn noch gab? Chinesen, die angeblich nicht an Politik interessiert sind sondern nur an Wohlstand und Konsum?""

Auch wenn die erste Podiumsdiskussion von Okwui Enwezor im Münchner Haus der Kunst keine klaren Antworten zur Rolle des Künsters im gesellschaftlichen Wandel am Beispiel von Ai Weiwei in China brachte – sie macht neugierig auf Okwui Enwezors Kunstverständnis und seine Pläne für das Haus der Kunst.


Links auf dradio.de:
Ai Weiwei ist frei - Chinesischer Künstler aus Haft entlassen

"Er hört nie auf zu arbeiten" - Hans Ulrich Obrist über seine Gespräche mit Ai Weiwei

Chinesische Regierung will mit Freilassung Ai Weiweis "Gesicht wahren" - Tilman Spengler: Ausland sollte seinen Einfluss nicht überschätzen

Kahn-Ackermann: China lässt sich "durch nichts und niemanden beeindrucken" - Ehemaliger Leiter des Pekinger Goethe-Instituts über Proteste gegen Ai Weiweis Verhaftung

China-Kenner fordert "Dialog mit den Unterdrückten" - Journalist Shi Ming über Aufklärung, Ai Weiwei und Kultur-Kontakte

"Ich setze nach wie vor auf die Kraft der Kultur" - Monika Grütters (CDU) zur Festnahme Ai Weiweis

Architektur des Widerspruchs - Ausstellung des Künstlers Ai Weiwei im Kunsthaus Bregenz (DLF)

Botschaften aus dem Nichts - Fotografien von Ai Weiwei im Fotomuseum Winterthur (DLF)

Dichter für Ai Weiwei - Das PEN Voices Festival in New York für die Freiheit der Kunst (DLF)
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