Kunst gegen die Inflation

Von Jochen Stöckmann |
Die frühen Zwanziger waren die Blütezeit der Graphikeditionen in Mappenform. Das Sprengel Museum Hannover besitzt als einzige Institution derartige Mappen von so namhaften Künstlern wie Karl Schmidt-Rottluff, Laszlo Moholy-Nagy und Martel Schwichtenberg. Die Blätter sind jetzt in einer Ausstellung zu sehen.
Grazil wirken die Geometrien von El Lissitzky, gravitätisch dagegen die Gesichter, hartknochig die Akte von Max Kaus. Expressionstisch schildert Karl Schmidt-Rottluff das Leben der Fischer, neusachlich nähert sich Martel Schwichtenberg dem Landleben in Pommern. Laszlo Moholy-Nagy beschließt mit vertrackt ausbalancierten Abstraktionen den Reigen von jeweils sechs lithographischen Blättern. Die aufwendig gedruckten Mappenwerke entstanden in einem einzigen Jahr, 1923, für die Kestner-Gesellschaft, den jungen hannoverschen Kunstverein.

Norbert Nobis: " Es zeigt sich eine große Bandbreite der Akzeptanz der Stile. Also, die Kestner-Gesellschaft, die ja immer gesehen worden ist als eine Vereinigung, die nur das Zeitgenössische zeigt, bringt mit Schmidt-Rottluff auch den alten Expressionismus, der 1923 schon nicht mehr so up to date war. Die Werke von Willy Robert Huth und Max Kaus sind ja auch eigentlich eher im expressionistischen Sinne. Aber dann wiederum gibt es mit Moholy-Nagy oder Lissitzky zwei Künstler, die absolut abstrakt und konstruktivistisch, damals also wirklich noch sehr neu, wenigstens für Deutschland noch sehr neu gearbeitet haben. "

Norbert Nobis, Kurator im Sprengel Museum Hannover, hat die "Kestner-Mappen" im graphischen Kabinett sozusagen aufgeschlagen, präsentiert die Blätter einzeln und gerahmt. Und hält sich dabei an die Chronologie, denn nicht umsonst startete das ungewöhnliche Unternehmen, Kunstfreunden und Sammlern exklusive Graphikeditionen von jeweils nur 50 Exemplaren anzubieten, mit den abstrakten "Proun"-Kompositonen von El Lissitzky.

Norbert Nobis: " Lissitzky hatte ja kurz vorher eine Ausstellung gehabt in der Kestner-Gesellschaft, und aus dieser Ausstellung sind immerhin sechs Werke verkauft worden. Das war ein Riesenerfolg und deswegen war die erste Mappe der Kestner-Gesellschaft die "Proun"-Mappe von Lissitzky. "

Der graue, scheinbar aus billigstem Papier gefertigte Umschlag dieser Mappe lässt an die damals schlechten Zeiten denken: Weltwährungskrise, kaum eine Chance für die Kunst. Meint man – und wird von Sophie Küppers-Lissitzky eines Besseren belehrt. Zwar hatte die Inflation die finanzielle Lage der Kestner-Gesellschaft sehr verschlechtert, das Publikum jedoch kauflustig gemacht! Ganz nach dem Vorbild von Hugo Stinnes, jenem als "Inflationskönig" apostrophierten Großindustriellen, der sein Fabrikimperium mit geliehenem Kapital billig zusammengekauft hatte. Und der nun als Sammler stets das handschriftlich numerierte Erstexemplar der Kestner-Mappen erwarb.
So erweisen sich die frühen Zwanziger als Blütezeit der Mappenwerke, der Graphikeditionen. Ob Kurt Schwitters mit seiner "Merzmappe" oder Otto Dix mit der "Kriegsmappe", ob Max Ernst oder Karl Schmidt-Rottluff. Letzterer hatte bereits 1918, noch unter dem frischen Eindruck des Weltkrieges, eine Holzschnittfolge im Verlag von Kurt Wolff herausgebracht mit Christus-Motiven, biblischen Episoden in harten Schwarzweiß-Kontrasten. Diese Blätter ergänzen die hannoversche Ausstellung, zeigen den schnellen Wandel hin zu den eher weicheren, stimmungsvolleren Steinzeichnungen der "Fischer" von 1923. Das war Kestner-Mappe Nummer Zwei, für Kurator Norbert Nobis fast noch wichtiger als Lissitzkys Premiere:

" Schmidt-Rottluff ist von all den Künstlern, die hier ausgestellt sind, also von denen, die Kestner-Mappen gemacht haben, der älteste. Und er kannte einige Künstler und hat geholfen, dass sie hier nach Hannover in die Provinz, wie man so schön sagt, gekommen sind. "

Wobei es die "Provinz" damals in sich hatte. Hannover war ja nicht nur für ein längeres Gastspiel von El Lissitzky gut, hier residierte auch Kurt Schwitters. Und diese Namen adelten wiederum die Kestner-Gesellschaft – und deren Mappen. Auch wenn es unter den insgesamt sechs Künstlern einige gibt, die es nicht zu Ruhm, Ehre oder Höchstpreisen brachten.

Norbert Nobis: " Max Kaus ist Professor gewesen in Berlin, war dort durchaus eine lokale Größe. Martel Schwichtenberg ist Mitte der zwanziger Jahre nach Südafrika ausgewandert, hat dort eine Töpferei gehabt, ist dann per Zufall 1939 in Deutschland gewesen, als der Krieg ausbrach, konnte also nicht zurück nach Südafrika. Nach entbehrungsreichen Jahren ist sie verstorben. Von ihr kann man nicht viel erwarten an Bekanntheit, sie ist aber die einzige hannoversche Künstlerin, die hier vertreten ist."

Als damaliger Wahlhannoveraner brachte El Lissitzky Ende 1923 sogar noch eine zweite Mappe heraus, den "Sieg über die Sonne" nach einer sogenannten "elektro-mechanischen" Oper, die zehn Jahre zuvor mit Figurinen von Wladimir Malewitsch in Petersburg aufgeführt worden war. Nicht mehr im Namen der Kestner-Gesellschaft, sondern im Eigenverlag der Druckerei – die sich nicht umsonst einen kommerziellen Vorteil von dieser Kunst erhoffte.

Norbert Nobis: " Also von den Künstlern, die über den Markt bekannt geworden sind, wie El Lissitzky und Laszlo Moholy-Nagy, sind auch diese Mappen heute kaum noch bezahlbar. Das Essener Folkwang-Museum hat die Figurinen-Mappe "Sieg über die Sonne" nachgekauft oder noch einmal gekauft, denn sie hatten die ja schon, aber dann ist sie unter den Nazis aus dem Museum entfernt worden. Das konnten sie nicht einmal mehr selber bezahlen, sondern nur mit Hilfe der Kulturstiftung der Länder. Die Preise sind davongelaufen. Von den anderen Künstlern, die sind noch bezahlbar. Also, wenn es da eine Mappe gäbe, könnten wir sie aus unserem Etat erstehen. "

Dem aber steht ein gar nicht schöner Zug einiger Kunsthändler entgegen, die die Kestner-Mappen wie die "Varieté"-Folge von Willy Robert Huth auseinandernehmen und nur einzelne Blätter anbieten, als – so wörtlich - "Trouvaille". Doch was da im Einzelfall als Schnäppchen angepriesen wird, geht auf Kosten der Kunstgeschichte, der Museen und letztlich also auf Kosten des Publikums:

Nobis: " Uns fehlt ja die Mappe von Willy Robert Huth, und wir hätten sie auch gerne, würden sie auch gerne kaufen – aber in den letzten 25 Jahren habe ich sie nirgendwo angeboten gesehen. "