Kommentar zu Kulturkürzungen
Kultur als eine Art Autoradio: nice to have, aber das Auto fährt auch ohne? Gegen diese Sicht wendet sich der Schriftsteller Alexander Estis - und auch Demos in Berlin prangerten die Senatspolitik Ende 2024. © picture alliance / PIC ONE / Ben Kriemann
Kunst ist risikoreich – aber fundamental
04:36 Minuten

Deutschland braucht Hunderte Milliarden Euro für Investitionen ins Militär oder in Infrastruktur. Die müssen an anderer Stelle eingespart werden – und es scheint erneut zuallererst die Kultur zu treffen. Ein kurzsichtiges und fehlgeleitetes Kalkül.
Ich möchte nicht über Geld sprechen. Nein, wirklich nicht. Aber was soll ich tun, man hat mich dafür bezahlt.
Dabei will schon Oscar Wilde gewusst haben: „Immer, wenn Künstler zusammenkommen, reden sie über Geld, und immer, wenn Banker zusammenkommen, reden sie über Kunst.“ Um den Bankern entgegenzukommen, die unter den Hörern gewiss zahlreich vertreten sind (meine Kontodaten sind der Redaktion bekannt), möchte ich mein Räsonnement über Geld mit einigen Gedanken zu Natur und Wert der Kunst anreichern.
Kürzungen in Berlin mit ungeahnten Ausmaßen
Wobei ich mit „anreichern“ doch wieder beim Geld wäre – und leider mitnichten bei der Kunst. Denn der Kunst und Kultur drohen derzeit, lassen Sie sich überraschen, fatale finanzielle Missstände, insbesondere in Berlin, das allerdings wie so oft apokalyptischer Vorreiter sein könnte.
Die jetzigen Kürzungen haben ungeahnte und ungekannte Ausmaße angenommen. Und doch ist die Kulturbranche neben Wissenschaft und Bildung nicht erst seit gestern beliebte Zielscheibe von Rationalisierungs- und Sparmaßnahmen, die auf einem kurzfristigen und fehlgeleiteten Kalkül beruhen – einem Kalkül, das danach fragt, was die Kultur im Hinblick auf bestimmte Zwecke leisten kann.
Als Absolutist der Kunst möchte ich ausrufen: Kunst braucht Freiheit, auch finanzielle; der Etat, das bin ich! „Aber ihr macht Kunst doch nicht fürs Geld!“, so lautet der immerwährende Einwurf. „Wahr“, so lautet die immerwährende Antwort, „aber wir brauchen Geld, um weiterhin Kunst nicht für Geld zu machen!“
Wir wissen es: Die Kunst geht nach Brot. Aber wenn alle Brot haben, braucht keiner irgendwo hinzugehen. Man kann endlich einfach sitzen bleiben und arbeiten. Ist diese künstlerische Arbeit aber nötig? Nun, die Notwendigkeit und Bedeutung von Kultur, Kunst und Literatur sollte in einer entwickelten Gesellschaft gar nicht erst begründet werden müssen.
Funktionalistisches Menschenbild
Umgekehrt sollten kulturfeindliche Tendenzen und Rhetoriken unter Rechtfertigungsdruck und gewisser Vorschussskepsis stehen. Zumal wenn sie auf einem funktionalistischen Menschen- und Gesellschaftsbild beruhen, wie es der Kultur eine Autonomie nur insoweit zugesteht, als sie von der übrigen Zivilisation abtrennbar vorgestellt wird – als eine Art sekundäre Komponente, ein luxuriöser Bonus, ein optionaler Budgetposten. Kultur gewissermaßen als Autoradio: Nett, wenn man es hat, aber das Auto fährt auch ohne.
Wir können derartige Kulturfeindlichkeit mit Wissenschaftsfeindlichkeit vergleichen. Auch Grundlagenforschung ist bekanntlich kein Luxus – und braucht finanzielle Freiheit ebenso wie die Freiheit vom Zwang der Zwecke. Kunst ist, wie ich denke, Grundlagenforschung des Gefühls.
Teilchenphysik ohne Nutzen für die Gesellschaft?
Und nun stellen Sie sich vor, jemand sagte zum Teilchenphysiker: „Wir brauchen das nicht, das hat keinen direkten Nutzen für die Gesellschaft.“ Ein solcher Pragmatismus führt nicht zum Ziel, ein solcher Utilitarismus ist unnütz, ein solcher Funktionalismus funktioniert nicht. Grundlagenforschung ist risikoreich, ihre Ergebnisse sind ungewiss, ihr Kosten-Nutzen-Ertrag unkalkulierbar. Aber gerade deshalb ist sie fundamental. Kunst ist risikoreich, ihre Ergebnisse sind ungewiss, ihr Kosten-Nutzen-Ertrag in der Regel … nun ja. Aber Kunst ist fundamental.
In diesem Sinne möchte ich den eingangs angesprochenen Bankern, daneben aber auch den Finanz- und Kulturpolitikern, den Behörden und Ministerien, den Managern und Verwaltern des Betriebs ein Wort von Heinrich Heine zuwerfen. Seinem Onkel, dem Bankier Salomon Heine, schrieb er nämlich ins Stammbuch: „Lieber Onkel, geben Sie mir 100.000 Mark und vergessen Sie auf ewig Ihren Sie liebenden Neffen Heinrich Heine.“ Gebt uns Geld und vergesst es – für den Rest werden wir sorgen.
Alexander Estis ist Schriftsteller und Kolumnist. 1986 in Moskau geboren, studierte er in Hamburg deutsche und lateinische Philologie, anschließend lehrte er an verschiedenen Universitäten in Deutschland sowie in der Schweiz, wo er seit 2016 als freier Autor lebt. Er ist Autor mehrerer Bücher, zuletzt erschien von ihm "Das Rondell. Geschichten von Menschen auf Kölner Straßen" im Verlag Parasitenpresse.