Kunst in der Coronakrise

Eine Opernarie auf Bestellung

05:49 Minuten
Der taiwanesische Künstler Lee Mingwei
Viele Kunstprojekte von Lee Mingwei basieren auf physischen Begegnungen - seine aktuelle Aktion überwindet die Coronaeinschränkungen. © Matson Films / Everett Collection / imago images
Von Anne Kohlick · 22.04.2020
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In seiner Ausstellung im Berliner Gropiusbau wollte der taiwanesische Künstler Lee Mingwei eine Opernsängerin unters Publikum mischen und singen lassen. Doch das Museum ist dicht. Die Opernsängerin singt jetzt doch - per Videoleitung aus ihrem Wohnzimmer.
Ein massiver Holzstuhl steht in einem sonst leeren Saal des Berliner Gropiusbaus. Es ist still im Museum - seit mehr als einem Monat dürfen keine Besucher mehr kommen.
Dabei hatte der taiwanesische Künstler Lee Mingwei hier in seiner neuen Ausstellung mit ihnen etwas ganz Besonderes vor: Eine Opernsängerin sollte sich unter das Publikum mischen und einzelne Gäste mit einem Lied beschenken, erklärt Museumsdirektorin Stephanie Rosenthal.
"Das funktioniert so, dass man hierher in diesen Raum geführt wird und man sich als Gast auf diesen Stuhl setzen darf und die Sängerin dann vor einem steht und ein Schubert-Lied singt."

Ein geschenktes Lied für die Zuversicht

Ein Lied als immaterielles Geschenk aus Klang, Blick und Gesten - das ist der Kern der Performance "Sonic Blossom" von Lee Mingwei. Doch dass sich Fremde in einem Museum nahekommen, ist in Zeiten von Kontaktverboten undenkbar. Das stellt den Künstler, der in New York lebt, vor neue Herausforderungen.
"Die meisten meiner Projekte basieren auf physischen Begegnungen zwischen Fremden. Wie können solche Arbeiten funktionieren, jetzt wo wir durch das Virus eingesperrt sind?", fragt sich Lee Mingwei. Er hat sich etwas einfallen lassen:
"Ich habe mir ein neues Projekt überlegt: 'Invitation for Dawn'. Es funktioniert online. Man kann sich auf der Website des Gropiusbaus dafür registrieren, wenn man ein Lied geschenkt bekommen möchte. Ein Lied darüber, dass nach der Nacht der Morgen kommt."
Die Opernsängerin, die eigentlich im Museum singen sollte, macht das jetzt von zu Hause aus - per Videoanruf vom Smartphone. Julia Shelkovskaia - eine der Sängerinnen, die für das Projekt engagiert wurden - steht in einem eleganten schwarzen Kleid in ihrer Einzimmerwohnung in Berlin-Friedrichsfelde und singt sich ein.

Aufgeregt vor der Online-Performance

Zwischen Sofa und Couchtisch fährt sie die Beine ihres Handystativs aus. Anders als beim Auftritt im Konzertsaal trägt sie an den Füßen keine Highheels, sondern Glitzersocken. Die werden später nicht im Bild sein, wenn die Sängerin gleich mit einer fremden Person verbunden wird.
"Ich finde das auch sehr spannend, weil ich das zum ersten Mal mache. Es wird auf der Zoom-Plattform stattfinden. Ich kriege ein Passwort und einen ID-Link und dann haben wir 15 Minuten mit dem Menschen, der auf der anderen Seite auf mich wartet."
In dieser Viertelstunde soll sie nichts Geringeres tun, als mit ihrem Gesang Hoffnung schenken. Keine einfache Aufgabe, die Künstler Lee Mingwei ihr stellt. Um sie zu erfüllen, hat Julia Shelkovskaia ein Lied aus ihrer russischen Heimat ausgesucht und einstudiert: "Pogodi" von Tschaikowsky.
"In diesem Lied geht es darum, dass das Leben eigentlich sehr kurz ist und die Zeit so schnell läuft. Aber das Wichtigste sind nur Momente mit unseren lieben Freunden, mit unserem Partner und diese Ruhemomente."
Dass die Sängerinnen und Sänger sich selbst aussuchen, welches Lied sie für "Invitation for Dawn" singen, gehört für Künstler Lee Mingwei zum Konzept:
"Ich finde es sehr wichtig, dass die Sänger ihre eigenen Gefühle miteinbringen - nicht nur über ihre Stimme, sondern auch über ihre persönliche Auswahl des Stücks. Ich will, dass sie in sich selbst hineinhorchen und diese Emotionen dann über das Internet zu anderen bringen."

Bezahltes Kunstprojekt in mageren Zeiten

"Invitation for Dawn" ist im Moment das einzige Projekt, mit dem die Opernsängerin Julia Shelkovskaia noch Geld verdient. Alle anderen Aufträge hat sie durch die Corona-Krise verloren.
"Ich bin sehr, sehr froh, dass dieses Projekt doch stattfindet. Das bringt mir wirklich Hoffnung, dass alles kann laufen."
Die 30-Jährige trägt noch schnell Lippenstift auf. In wenigen Minuten soll der Videoanruf beginnen. Sie überprüft, ob das Stativ sicher steht, rückt das Handy zurecht, auf dem sie sich selbst lächeln sieht. Man sieht ihr die Aufregung an. Ein junger Mann erscheint auf dem Bildschirm ihres Handys. Julia Shelkovskaia: "Ich werde dann ein Lied für dich singen."
"Pogodi" heißt "warte mal" auf Russisch - ein perfekter Titel für die Zeit des Corona-Stillstands. Künstler Lee Mingwei erlebt diese Pause in New York auch als etwas Positives.
"Wir machen gerade eine schwere Zeit durch. Aber es ist auch eine Zeit, die uns viele Möglichkeiten eröffnet - um darüber nachzudenken, wie wir bisher gelebt haben und was wir in Zukunft anders machen können. So eine Chance kommt nicht oft! Also seid optimistisch und wir sehen uns dann in Berlin."

Das Projekt "Invitation for Dawn" von Lee Mingwei läuft online noch bis Freitag, den 24. April 2020, jeweils von 16 bis 18 Uhr. Wenn Sie auch ein Lied geschenkt bekommen möchten - per Videoanruf von einer Opernsängerin - dann schicken Sie eine Mail mit Ihrem Wunschtermin an opencalls@gropiusbau.de

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