Marcus Graf: Istanbul-Biennale. Geschichte, Position, Wirkung
Kulturverlag Kadmos, Berlin 2013
624 Seiten, 69,90 Euro
Raum für radikale Innovation
Der Istanbuler Kulturwissenschaftler Marcus Graf zeigt, wie aus einer kleinen türkischen Kunstausstellung ein weltoffenes Forum für neue Kunst wurde. Doch der Autor der Doktorarbeit sieht in der Erfolgsgeschichte auch eine Gefahr.
"Neue Ideen und wahre Überraschungen". Was die Kritikerin Helena Kontova 1997 in der Zeitschrift "Flash Art" über die Istanbul-Biennale schrieb, war bemerkenswert. Schließlich war das Kunstevent gerade einmal zehn Jahre alt, zählte aber schon zu den führenden Biennalen der Welt – gleich nach denen von Venedig und Sao Paulo. Viele fragen sich noch heute, wie es dazu kommen konnte.
Die Doktorarbeit, die der Istanbuler Kulturwissenschaftler Marcus Graf vor kurzem über die Biennale abgeschlossen hat, ist eher eine kulturgeschichtliche als kulturtheoretische Arbeit. Der 1974 geborene Autor, der als Professor und Kurator in Istanbul lebt, bettet deren Geschichte in die des europäischen und türkischen Kunst- und Ausstellungswesens ein. So kann er die besonderen Entwicklungsbedingungen des zeitgenössischen türkischen Kunstsystems deutlich machen.
Chronologie der 13 bisherigen Biennalen
Zwar brach die "Tanzimat"-Reformperiode zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit dem Bilderverbot des Islam. Die Kunstöffentlichkeit blieb jedoch auf den Serail des Sultans beschränkt. Zivilgesellschaftliche Initiativen bildeten sich erst spät. Großausstellungen wie die Biennalen in Venedig 1895 oder Paris 1889 blieben im Osmanischen Reich deshalb ebenso ohne Pendant wie in der späteren Republik Türkei. Kein Wunder also, dass die erste wichtige Ausstellung moderner Kunst in Istanbul – die 1987 gegründete Biennale – erst gut 150 Jahr später als im Rest Europas stattfand.
Im Hauptteil seines Werks lässt Graf zwölf der bislang 13 Biennalen chronologisch Revue passieren. Die standardisierte Form aus Zahlen, Daten und Personaltableaus, die akribischen Presseanalysen und Interviews mit 42 Künstlern, Kuratoren und Direktoren der Biennale lesen sich stellenweise etwas zäh. Und um die – im Untertitel annoncierte – "Wirkung" der Biennale zu bestimmen, hätte Graf vielleicht auch politische und soziale Akteure und internationale Experten befragen sollen. Trotzdem lässt sich nachvollziehen, wie aus der traditionellen Biennale eine innovative Kunstausstellung wird.
Der Kasseler Documenta ebenbürtig
1987/1989 wurde noch "Zeitgenössische Kunst in traditionellen Räumen" präsentiert, die Künstler kamen überwiegend aus der Türkei. 1992 und 2005 verlässt die Biennale die historischen Ausstellungsorte wie die Hagia Sophia, bezieht Quartiere an neuralgischen Orten der modernen Metropole und schafft die Venedig abgeschauten Nationalschauen ab. 2001 reflektiert sie unter dem Motto "Egofugal" erstmals eine globale Vision. In Istanbul werden mehr außereuropäische Künstler gezeigt als anderswo, die Besucherzahlen steigen von 10.000 auf über 100.000, das Interesse der ausländischen Presse steigt.
So wird die Biennale nicht nur zu einem "Wendepunkt" im türkischen Ausstellungswesen und zum "Beschleuniger der türkischen Kunstszene". Graf vergleicht sie auch zu Recht mit der Kasseler Documenta: Beide sollten den Austausch und Dialog mit der europäischen Moderne pflegen, im Laufe der Jahre entfernten sie sich jedoch von diesen Vorgaben. Das Istanbuler Beispiel steht prototypisch für den Formwandel vom lokalen Kunstevent zum universalen Labor für Urbanitäts- und Gesellschaftsreflexion und -kritik, das oft genug heftige Konflikte auslöste.
Gerade diese Erfolgsgeschichte birgt für Graf die Gefahr, dass die Biennale "zu einer beliebigen unter vielen anderen" wird. Die Dialektik von lokalem Bezug und globaler Reflexion, die ihm als Identität vorschwebt, ist freilich längst Standard vieler der weltweit gut 200 Biennalen. Die Istanbuler darauf festzulegen hieße, das Prinzip zu neutralisieren, das sie so erfolgreich gemacht hat – radikale Innovation.