"Das Buch tritt hoffentlich einer Menge Leute auf die Füße"
Nein, eine DDR-Geschichte habe er nicht im Sinn gehabt, sagt der Schriftsteller Uwe Kolbe über seinen Roman "Die Lüge". Dennoch habe er natürlich biografisches Material verarbeitet. Beschäftigt hat ihn offenbar die Rolle der Künstlerszene im Arbeiter- und Bauernstaat.
Liane von Billerbeck: Wenn die Konstellation in einem Buch sehr nahe am Leben eines Autors ist, dann ist man schnell geneigt, nach dem zu suchen, was Literatur und Leben verbindet oder eben trennt. Und genau das geschieht dem Lyriker Uwe Kolbe gerade des Öfteren, denn jetzt ist sein erster Roman erschienen. "Die Lüge" heißt er und er erzählt eine Vater-Sohn-Geschichte und die Geschichte einer Lüge.
Uwe Kolbe wurde 1957 in Ostberlin in die DDR hineingeboren und damit ist auch schon der Titel seines ersten Lyrikbandes genannt. Dann wurde es schwierig in den 80ern, aber anders als andere Schriftsteller konnte er seit Mitte der 80er mit Dauervisum in den Westen ausreisen, Ausdruck auch einer Politik des "Teile und herrsche".
1988 ging er ganz weg aus der DDR, lebte in Hamburg, in Tübingen, immer wieder auch mit Stipendien in den USA, und nach ein paar Jahren in Berlin ist er nun wieder an der Alster in Hamburg zuhause. Für seine Lyrik wurde Kolbe vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Heinrich-Mann-Preis und einem Stipendium der Villa Massimo. Uwe Kolbe ist aus Hamburg zugeschaltet, ich grüße Sie.
Uwe Kolbe: Guten Tag!
von Billerbeck: "Die Lüge" – die Geschichte des Verrats, den ein Vater an seinem Sohn verübt, das ist ja ein großes biblisches antikes Thema. Der Verlag bewirbt Ihren Roman als "Absage an Gleichgültigkeit ob im Alltag einer Diktatur oder anderswo". Nun erscheint das Buch ja 25 Jahre nach dem Mauerfall. Sollten mit dieser Werbung da Leser nicht abgeschreckt werden, die vielleicht beim Thema DDR und Stasi die Flucht ergreifen könnten?
Kolbe: Na ja, ich kann schlecht für den Verlag sprechen und ich kann mich auch nur entschuldigen für diese Koinzidenz, dass das Buch nun ausgerechnet in diesem, na ja, wie auch immer Jubiläumsjahr erscheint.
von Billerbeck: Wäre schöner gewesen, die hätte es nicht gegeben?
"Das Schlimmste an den Figuren ist ihre Gleichgültigkeit"
Kolbe: Ja, ich glaube, ja. In dem Buch, dessen ursprünglicher Titel ja noch anders war und dessen viele Titel noch anders sein könnten - sagen wir "Verstrickung", sagen wir "Indolenz" oder eben auch vielleicht das Wort "Gleichgültigkeit" -, da geht es eben nicht darum, zurückzureisen in das Land, das mit den drei Buchstaben und mit allem und auch mit der Konkretheit, ob nun ostalgisch oder sehr kritisch von dieser oder jener Seite angeschaut wird, immer sehr konkret Urstände feiert und immer wieder aufersteht und uns mittlerweile, sagen wir, auch in einem bestimmten Vokabular vielleicht langweilt. Davon wollte ich deutlich weg.
Ich wollte eine Vater-Sohn-Geschichte erzählen, die natürlich unter konkreten Umständen spielt, aber mit dieser und jener Verfremdung darauf hinweisen und darauf aus sein, dass es um das Verhalten von Menschen unter Verhältnissen geht, die so oder anders sein könnten. Und das Wichtigste an diesen Personen oder vielleicht das Schlimmste ist ja eben ihre Gleichgültigkeit, die große Diskrepanz zwischen dem, was sie womöglich behaupten, ob es gesellschaftlich oder politisch sei oder von ihrer Berufswahl her, und was sie andererseits permanent tun.
von Billerbeck: Aber "Die Lüge" spielt ja nicht in einem namenlosen Land, auch wenn es nur die Republik heißt. Man erkennt sie ja als die Deutsche Demokratische. Das geht von der Einheitspartei bis zu den Ferienspielen. Ist es auch für den Autor gleich, wo der Roman spielt, um nicht gleichgültig zu sagen?
Kolbe: Das ist es nicht, weil ich nicht verleugnen kann, dass ich natürlich ein Material genommen habe, das mir zur Verfügung steht. Ich bin natürlich in ein Land, eine Gegend, eine Geschichte gegangen – der Roman spielt ja nebenbei bemerkt in zirka 33 Jahren; der umfasst ja eine Periode von etwa 1951 bis 1984 im Wesentlichen -, und das ist natürlich ein Material auch, was mir biografisch und von den Verhältnissen her zur Verfügung steht, und natürlich wäre ich ein Tölpel, wenn ich nicht wüsste, dass jeder da sagt, ja das ist doch aber und dies ist doch aber, aber man geht, hoffe ich, fremde Gänge in einem womöglich vielfach bekannten und verschrienen Gebiet.
Kolbe: Ich habe zwischendurch beim Lesen manchmal die Assoziation gehabt, dass Sie sich zum Ort des Romangeschehens und seinen Helden so verhalten, wie die kluge Bauerntochter im Grimm-Märchen, die die Aufgabe hatte, nicht angezogen und nicht nackt, nicht gefahren und nicht gelaufen, nicht in dem Weg und nicht außer dem Weg zum König zu kommen und das auch geschafft hat. Sie schreiben nahe und zugleich aus größtmöglicher Distanz über Lüge in der DDR, aber die DDR soll es nicht sein. Warum nicht?
Kolbe: Erstens gefällt mir das Gleichnis mit dem Märchen sehr gut, muss ich sagen. Zum anderen: Ich will nicht einfach da hingehen. Ich will nicht einfach da hingehen und sagen, ja, es war so und so. Dann hätte ich, weiß ich nicht, ein anderes Genre wählen sollen und müssen. Sondern ich will etwas vorführen, durchaus etwas vorführen, was unter diesen konkreten Umständen nun angesiedelt ist, und das ist ja etwas, was erstens natürlich Menschen unter Verhältnissen einer geschlossenen Gesellschaft und in einer Diktatur angehen kann, wo immer die auf der Welt ist, was aber Väter und Söhne, Mütter und Töchter, was Personen angehen kann, Menschen angehen kann unter Verhältnissen. Und es ist hoffentlich auch eine Versuchsanordnung. Sie ist nicht richtig brechtisch geraten, aber es ist eine, und wenn man diese Leute anguckt, kann man, wird man schwer Figuren finden, mit denen man identifikatorisch umgehen kann.
von Billerbeck: Trotzdem ist es ja so: Sie reklamieren für sich die universelle Geschichte in diesem Vater-Sohn-Konflikt, der da spielt in dem Buch. Aber trotzdem ist es so, dass einige Personen der Zeitgeschichte wie beispielsweise die Dichter Erich Arendt und Adolf Endler ihre richtigen Namen behalten, andere Personen, Wolf Biermann, Ihr Mentor Franz Fühmann, die kriegen andere Namen. Warum mal so und mal so? Warum dieses Verwirrspiel?
Kolbe: Das ist ein Punkt, der auch schon kritisiert worden ist, aber im Grunde ist es konsistent, nämlich es sind in der Regel lebende Personen, wenn sie denn sozusagen ein "alter ego" im Buch haben, mit verfremdeten Namen bezeichnet.
von Billerbeck: Aber Franz Fühmann heißt Sebastian Kreisler.
Kolbe: Ja, ja! Das ist eben der Punkt. Da sprechen Sie aber etwas an. Sie sagen, Franz Fühmann heißt Sebastian Kreisler. Nein! Ein Komponist taucht im Roman auf, der viele Züge von Fühmann hat, aber der ist ein Komponist und der ist auch im Extrem - - Es gibt da eine Szene, die dann im Westberlin im Jahre 1982 in etwa spielt, wo biografische Dinge dieser Figur angehangen werden, die mit Fühmann überhaupt nichts mehr zu tun haben. Und Sebastian Kreisler ist gleichzeitig natürlich auch eine Hommage, ein Ehrenname an einen, der sowohl mit der Romantik als auch mit dem Leiden zu tun hatte.
von Billerbeck: Deutschlandradio Kultur – Uwe Kolbe ist mein Gesprächspartner. Der vor allem durch seine Lyrik bekannte Autor hat einen Roman geschrieben, "Die Lüge", gerade bei S. Fischer erschienen. – Der Sohn im Roman ist ja anders als Sie Musiker, ein E-Musiker, wie man so schön gesagt hat und immer noch sagt. Ich hätte bei Kolbe eher auf bildende Kunst getippt und einen Maler als Held. Ist Musik eine andere Sehnsucht, die Sie sich da in Form des Helden und seiner Obsession erfüllen?
Kolbe: Es gibt bestimmte, ganz ausgewählte Musiker, die mich immer sehr interessiert haben. Und mein Musikhören, nur Hören - ich bin ganz passiv auf dem Gebiet – hat ein paar Strecken, die mich auch nicht los lassen, klassische Strecken und dann, ich weiß nicht, als Namen, als Hausnummern John Cage und György Ligeti vielleicht. Davon ist etwas eingeflossen. Gleichzeitig habe ich heilige Scheu davor gehabt, jemals es nur zu versuchen, jemals im Ansatz nur auf die Idee zu kommen, das zu tun, was Thomas Mann mit dem Faustus gemacht hat, mir Rat zu holen bei Komponisten und etwas zu konstruieren, was ich nicht konstruieren wollte. Ich wollte einen, der eine hohe Kunst betreibt, die eigentlich in anderen Gesellschaften allerdings und in der Regel sehr marginalisiert ist, und das ist ja heutzutage Lyrik auch.
"Die Intelligenzia in der DDR war verstrickt"
von Billerbeck: Ein Vater verrät seinen Sohn, die große Lüge, die Lebenslüge. So was existiert ja bekanntlich nicht nur in Diktaturen. Was ist das Universelle an Ihrer Geschichte?
Kolbe: Das Universelle ist, wenn Menschen das eine tun und das andere sagen. Das Buch tritt hoffentlich auch einer Menge Leute auf die Füße. Ich möchte eigentlich auch durchaus ein Gegenbild zu einer Behauptung von Opposition zum Beispiel, von Dissidenz darin vorführen …
von Billerbeck: Auch Ihrer eigenen?
Kolbe: Meine eigene ist vertrackter. Meine eigene geht übrigens nicht in dem Buch auf. Sie geht irgendwo ein, natürlich, weil sie mir zueigen war oder so. Aber gut: Natürlich zeigt da auch etwas auf mich zurück, das möchte sein. Natürlich möchte ich auch behandeln 'das Vielfache nah an den Verhältnissen und integriert gewesen sein und gleichzeitig immer doch sich woanders befinden', was vielfach natürlich, muss man zugeben, vor allem in der Literatur siedelte und bei den Literaten und Dramatikern der DDR siedelte. Das ist natürlich das Vorbild dafür. Aber es ist ja eine Haltung, die durch alle Berufssparten durchging. Da war einiges geboten an, wie soll ich sagen, Bekanntschaften und Verflechtungen und Abhängigkeiten, die bis ins Familiäre gingen. So etwas, so eine Anordnung wollte ich vorführen.
von Billerbeck: Bei Ihnen landen Vater und Sohn ja sogar bei der gleichen Frau im Bett. Die Verstrickung der beiden Männer, der Verrat, die Lüge geht also bis ins Allerintimste. Aber dennoch, Sie haben es auch gesagt, bleibt der Kampf ja letztlich unausgetragen. Nur biologisch siegt einer. Warum läuft das quasi so ins Leere?
Kolbe: Weil ich glaube, dass es über diese ganze Zeit, diese Erfahrung, die wir da teilen, selten geschehen ist. Man kann Beispiele namhaft machen, man kann Namen nennen, man kann Menschen nennen, Figuren nennen, die unabhängig waren, die, sagen wir, Renegaten wurden, die wirklich Dissidenten wurden. Man kann welche sagen, Hans Joachim Schädlich unter den Schriftstellern meinetwegen, jemand, der sehr früh den Schnitt gemacht hat.
Aber die Masse der Autorinnen und Autoren, die Masse der Künstler, der Menschen, mit denen ich Erfahrungen teile im Wesentlichen, die waren im Unterschied zu dem Teil, der übrigens im Buch auch vorkommt, zu der Erfahrung, die man machen konnte, wenn man mit Arbeitern, mit der sogenannten Masse, mit dem Proletariat zu tun hatte … - die Intelligenzia in der DDR war verstrickt und hatte Verantwortung für alles, was dort lief. Das ist die Basis dieses Romans. Und da gab es keine Lösung. Ganz selten gab es da wirklich den Schnitt in der Ebene und in dem Personal, von dem ich rede. Ich rede nicht von Menschen, die ins Gefängnis gegangen sind. Die kommen in dem Buch nicht vor.
von Billerbeck: Der Dichter Uwe Kolbe. "Die Lüge" heißt sein bei S. Fischer erschienener erster Roman. Heute Abend feiert Uwe Kolbe im Berliner Literarischen Kolloquium am Wannsee seine Buchpremiere als Romanautor. Alles Gute und danke für das Gespräch.
Kolbe: Danke!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.