Die Ausstellung "Extraordinaire! Unbekannte Werke aus psychiatrischen Einrichtungen in der Schweiz um 1900" ist in der Sammlung Prinzhorn in Heidelberg bis zum 20. Januar zu sehen.
Als "unruhige Frauen" Seegras zupfen mussten
09:34 Minuten
Anfang des 20. Jahrhunderts waren Patienten in Schweizer Kliniken künstlerisch tätig. Weggesperrt von der Öffentlichkeit fertigten sie Malereien und Handarbeiten an, die die Heidelberger Sammlung Prinzhorn unter dem Titel "Extraordinaire" zeigt.
Für ein Forschungsprojekt hatte sich Katrin Luchsinger, Kulturwissenschaftlerin und Professorin an der Zürcher Hochschule der Künste, durch mehr als 100 Jahre alte Patientenakten von Psychiatriepatienten gearbeitet. Dabei hat sie bisher unbekannte Kunst und Geschichten gefunden, die jetzt in der Wanderausstellung "Extraordinaire! Unbekannte Werke aus psychiatrischen Einrichtungen in der Schweiz um 1900" zu sehen sind.
Ausstellungstitel geht auf Kunstwerk zurück
Der Titel "Extraordinaire!" – "Außergewöhnlich!" – sei ein Zitat auf einem Patientenkunstwerk, sagte Katrin Luchsinger im Deutschlandfunk Kultur.
Für die Ausstellung sei sie auf der Suche nach einem Titel gewesen und dabei auf das Zitat "Extraordinaire!" gestoßen, das ganz klein auf einem Kunstwerk einer Patienten stehe:
"Die Szene ist wie eine Schlüsselszene. Das ist wie ein Kernstück, ein Beispiel, ein Exempel. Die Patientin beschwert sich in dieser zeichnerischen und schriftlichen Arbeit über die Klinik. Sie findet in dieser Anstalt alles unordentlich. Sie findet es chaotisch und ihre Kleider werden vertauscht. Das Essen ist schlecht. Dann schreibt sie eine Beschwerde an den Gesundheitsdirektor – das kommt natürlich nie an –, weil zwei Pflegerinnen ihr ein graues Kleid anziehen von der Farbe von Kartons, ein Zellenkleid. Und sie schreibt, das ist für die Allerverwirrtesten. Sie nimmt das sehr wahr, dass sie jetzt wie auf einer untersten Stufe angelangt ist. Und die beiden Pflegerinnen sagen in einem pflegerischen Duktus: 'Ist sie nicht hübsch in diesem Kleid!' Und sie ist so verzweifelt, dass man ihr das antut, dass sie das runterschluckt und sagt: 'Extraordinaire!' Mit Ausrufezeichen. Der Text ist auf Französisch."
Enorm reflektierte Patientenarbeiten
Die Patientin fühlte sich stigmatisiert und sie habe auch gewusst, dass es nichts nütze, wenn sie sich weigern würde, dieses Kleid zu tragen, sagte Katrin Luchsinger. Es sei bezeichnend, dass all die Patientenarbeiten enorm reflektiert seien:
"Die Menschen berichten darüber, dass sie wissen, dass sie jetzt an einem besonderen Ort in der Gesellschaft sind, wo sie komplett ausgeschlossen sind. Und das macht die Werke auch so komplex."
Eine Arbeit ist der Kulturwissenschaftlerin besonders in Erinnerung geblieben. Das war das erste Werk, das sie 2004 in einer Klinik, die geschlossen wurde, gesehen hatte:
Eine Arbeit ist der Kulturwissenschaftlerin besonders in Erinnerung geblieben. Das war das erste Werk, das sie 2004 in einer Klinik, die geschlossen wurde, gesehen hatte:
"Da waren Arbeiten in Schränken und eine war in Plastikmäppchen. Man sah gar nicht, was das war – eine Art Strickarbeit. Und das waren Strümpfe, ein Damenhut und eine Handtasche gestrickt aus Seegras."
Die Kliniken hätten Seegras verwendet, weil das ein waschbares Material zum Befüllen von Matratzen gewesen sei, erläuterte Katrin Luchsinger. So hätten sogenannte unruhige Frauen, die kränksten Frauen auf den Abteilungen, Seegras zupfen müssen. Diese eine Patientin sei 24 Jahre in der Pflegeanstalt Rheinau bei Zürich gewesen und habe jahrelang Seegras gezupft:
Die Kliniken hätten Seegras verwendet, weil das ein waschbares Material zum Befüllen von Matratzen gewesen sei, erläuterte Katrin Luchsinger. So hätten sogenannte unruhige Frauen, die kränksten Frauen auf den Abteilungen, Seegras zupfen müssen. Diese eine Patientin sei 24 Jahre in der Pflegeanstalt Rheinau bei Zürich gewesen und habe jahrelang Seegras gezupft:
"Sie hat daraus ganz feine wie Seidenstrümpfe… aber ganz absurd aus diesen Algen Seidenstrümpfe gezupft. Und was mich berührt hat, das sind offizielle Dinge. Das sind Dinge, die eine Frau trägt, wenn sie aus dem Haus geht. Wenn sie Hausfrau ist, wenn sie Mutter ist, es waren auch Kinderkleider, Babykleider dabei. Dass sich diese Frau mit dem Nichts, was sie an Material hat, sich an ihre öffentliche Rolle erinnert und das reproduziert in einer ganz verschobenen, traurigen, sinnlosen Weise. Aber die Sinnlosigkeit damit auch reflektiert. Sie weiß ja, dass sie das nicht gebrauchen kann."
Geheimschrift als persönlicher Zufluchtsort
Die Ausstellung zeigt aber auch darstellende Kunst. So ist eine umfangreiche Arbeit von einem ehemaligen Müller zu sehen, der sich mit dem Alltag in der Anstalt beschäftigte. So seien die Müllpläne in einer schönen Schrift aufgeschrieben. Später habe er auch eine eigene kaligrafische Geheimschrift erfunden, mit der er die wenigen Dinge, die er hatte, wie einen Bleistift, in Kalligraphie dargestellt hat:
"Er hat immer seine Anstaltsnummer quasi wie einen Stempel mit Tusche ornamental aufgezeichnet… sich selbst als Objekt der Untersuchung und der Wissenschaft."
Patienten mussten den ganzen Tag arbeiten
Damals hätten die Klinken den Patienten nur wenig Raum zur Verfügung gestellt, um sich künstlerisch auszudrücken. Um 1900 bis 1930 hätte die Psychiatrien sehr schwierige Aufgaben zu bewältigen gehabt, sagt Katrin Luchsinger:
"Die Anstalten waren überfüllt, immer mehr Leute kamen und das konnte so nicht weitergehen. Man dachte, das Beste, was man machen kann, ist, man trainiert die Patienten, um sich an einen Arbeitsalltag zu gewöhnen. Sie mussten den ganzen Tag arbeiten. Und in manchen Anstalten, wo die sogenannten unheilbaren Patienten waren, ließ man es zu, dass sie sich sozusagen beschäftigten. Das war nicht so gut wie Arbeit, aber besser als Nichtstun. Unter dieser Beschäftigung wurde das künstlerische Schaffen eigentlich subsumiert. Und manche Psychiater haben das intensiver und andere weniger intensiv gesammelt."
Sind Avantgardekünstler behandlungsbedürftig?
Sie hätten es nicht gesammelt, weil sie es für primär künstlerisch wertvoll gehalten hätten, sagt Katrin Luchsinger, sondern sie hätten es interessant gefunden, wie jemand auf eine Idee komme, wie lange es dauern würde, bis jemandem etwas einfalle und wie Halluzinationen beschaffen seien. Manchmal sehe die Kunst der Patienten auch wie Avantgardekunst aus. Und es wurde sich gefragt:
"Was heißt das für die Avantgarde? Sie die eigentlich behandlungsbedürftig?"
Oder man fragte: Warum sehen manche Kunstwerke aus wie die vielen Objekte, die damals aus den Kolonien nach Europa gekommen sind? Gibt es doch so etwas wie eine Urkreativität?
"Und Psychiater dachten dann, Kunst und Kreativität ist eigentlich auch ein Bereich, in dem die Psychiatrie viel zu sagen hat."
(jde)
(jde)