Mit dem Bollerwagen Google Maps verladen
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Ein Mann packt einen Bollerwagen voll mit Smartphones und spaziert damit auf unbefahrenen Straßen durch Berlin. Was sich zunächst etwas schräg anhört, ist eine Kunstaktion, die Google Maps manipuliert haben soll.
Auf dem Youtube-Video der Performance zieht ein Mann einen roten Bollerwagen durch Berlin. Parallel dazu sieht man die Goolge-Maps-Ansicht inklusive Verkehrsinformationen. Dort, wo der Mann entlangläuft, leuchten die Straßen rot: Goolge Maps sagt also: Hier ist Stau! Dabei sind die Straßen leer.
In dem Bollerwagen liegen 99 Smartphones. Sie tricksen anscheinend Googles Stau-Berechnung aus. Die basiert nämlich auf der Position und Geschwindigkeit, mit der sich die Smartphones der Menschen durch die Stadt bewegen. Ein Haufen langsam voran kriechender Geräte gaukelt dem Algorithmus anscheinend einen Stau vor.
Ist das schon Vandalismus? "Ich habe da auch schon darüber nachgedacht. Ich finde, es ist so eine Art Streetart mit technologischen Mitteln", sagt Simon Weckert. Der Berliner Künstler steckt hinter dem Video. Die Performance zeigt etwas, das Weckert mit den Worten des amerikanischen Autors John M. Culkin zusammen fasst: "We shape our tools and thereafter our tools shape us." – "Wir formen unsere Werkzeuge und dann formen unsere Werkzeuge uns."
"Da geht es da drum: Wir haben diese digitalen Karten, diese digitalen Tools mit kreiert. Und jetzt ist es so, dass wir uns immer mehr in diese Tools integrieren oder anpassen und demzufolge unser Verhalten ändern."
Apps verändern unsere Städte
Google Maps und andere Karten-Apps sind klassische Beispiel dafür: Weil sie den Verkehr in Echtzeit analysieren und die Fahrer umleiten, verändern sie die Stadt. Die Miguel Street in San Francisco war mal eine ruhige Straße im Viertel Glen Park. Doch wenn die Verkehrsadern der Stadt blockiert sind, schicken die Karten-Apps die Fahrer durch diesen Schleichpfad hindurch und bringen den Verkehr in ein Wohnviertel. Gleiches passiert in L.A., London und in vielen anderen Städten.
"Der Spruch bezieht sich nicht nur auf die Onlinekarten, das bezieht sich natürlich auch auf andere digitale Tools. "Thereafter they shape us", bedeutet, dass wir anfangen, uns maschinenlesbar zu machen und unsere Sprache an der Stelle anpassen oder unsere Interaktionen so bewegen und so weiterleiten, dass wir besser mit diesen mechanischen Systemen interagieren."
Es entstehen Rückkopplungseffekte: Instagram lernt durch Klicks, was seine Nutzer schön finden und präsentiert ihnen immer mehr davon. Dadurch lernen die Nutzer wieder, was sie fotografieren sollen, um den anderen zu gefallen. Sie lernen eine neue Wahrnehmung. Netflix analysiert das Auswahlverhalten auf der Couch und schlägt Filme vor, die wiederum den Geschmack des Nutzer prägen.
Tinder berechnet aus der geographischen Distanz und bisherigen Vorlieben die passenden Liebespartner. In der digitalen Sphäre werden Menschen mit ihren Informationen zum Input – und gleichzeitig zu einer Art Output der Algorithmen. Nämlich dann, wenn die Maschinen das Verhalten der Menschen beeinflussen. Doch was uns da lenkt, ist unvollständig.
"Karten drücken das aus. Das ist immer nur eine vereinfachte Form von der so gennannten Realität. Aber das Problem ist, dass wir uns immer weiter, an diese Zahlen oder diese Karten oder Tools uns anlehnen, aber vergessen an dieser Stelle, dass es nur ein Modell der Realität ist."
Gefahr und Potential von Computermodellen
Modelle sind immer Vereinfachungen. Sie sind der Grund, warum die Systeme überhaupt funktionieren. Aber sie haben auch zwei Konsequenzen: Erstens können sie zu unerwünschten Folgen in der physischen Welt führen. Weil ein Modell des Verkehrs eben nicht die Bedürfnisse der Menschen kennt und nicht weiß, was sich Stadtplaner einst gedacht haben, kann es Wohngebiete kaputt machen. Und wenn in Straßen plötzlich mehr Verkehr als üblich ist, blockieren die Querstraßen, es kommt zu Stau, Verkehrschaos. Dating-Apps, Online-Videotheken und soziale Netze haben ähnliche Beschränkungen. Die Frage ist, wo sie Chaos verursachen.
Aber die Vereinfachungen sind – zweitens – auch eine Chance für jeden, der sich der Macht der Maschinen entziehen will. Denn der begrenzte Blick der Algorithmen macht sie anfällig für Hacks aus der physischen Welt. Beispiele gefällig? Eine israelische Firma verändert Gesichtsfotos so, dass die Gesichtserkennungsalgorithmen den Menschen darauf nicht mehr identifizieren. Ein amerikanischer Vater hat für seine Tochter und ihre Freunde ein Programm geschrieben, dass die Instagram-Vorlieben der verschiedenen Teenager mixt und so den Auswahlalgorithmus in die Irre führt. In Los Angeles haben Anwohner einer einst ruhigen Straße versucht, falsche Verkehrsunfälle zu melden, damit die Navigations-Apps ihre Gegend meiden.
Ein Sandkorn im Getriebe
Und auch Simon Weckert hat die digitalen Maschine manipuliert, die unsere Welt verändert. "Wahrscheinlich ist da vielleicht so ein Sandkorn ins Getriebe gefallen. Auf jeden Fall."
Er hat die Maschine damit nicht dauerhaft verändert. Aber mit seiner kleinen Störung hat er zumindest aufgezeigt, wie die digitale und die physische Sphäre verflochten sind. Und wie man die Maschinen ein wenig beeinflussen kann. Und sei es nur mit 99 Smartphones und einem kleinen, roten Bollerwagen.