Kunstfreiheit oder Rassismus

Das "N-Wort" polarisiert das Theater

Das Theaterstück nach dem Roman von Peter Richter wurde von Regisseurin Claudia Bauer umgesetzt und hat am 16.09.2016 Premiere.
Wie umgehen mit der Darstellung von Rassisten auf der Bühne? Claudia Bauers Inszenierung "89/90" wurde beim Berliner Theatertreffen zensiert © picture alliance / dpa / Sebastian Willnow
Von Barbara Behrendt |
Beim Berliner Theatertreffen ließ der Intendant den Text einer Neonazi-Figur in Claudia Bauers Inszenierung von "89/90" zensieren - obwohl es in dem Stück um Rassismus geht. Wenn das Theater Missstände verhandeln soll, müssen diese auch darstellbar sein, sagen Kritiker.
Es war Claudia Bauers Theatertreffen-Debüt. Die Regisseurin war mit der Leipziger Inszenierung von Peter Richters Wenderoman "89/90" eingeladen – die Aufführung kam in Berlin gut an, danach überreichte Festival-Chefin Yvonne Büdenhölzer Bauers Team den Theatertreffen-Preis. Feierstimmung überall. Bis zur zweiten Aufführung am Tag darauf, kurz vor Beginn im ausverkauften Festspielhaus.
"Die sind wenige Minuten vor Beginn der Vorstellung auf mich und mein Team zugekommen und haben gesagt, wir müssen das N-Wort rausnehmen. Wir sind aus allen Wolken gefallen, weil wir mit so was überhaupt nicht gerechnet haben."
"Die" das waren Thomas Oberender, der Intendant der Berliner Festspiele, und zwei Mitarbeiter. Das "N-Wort" ist das Wort "Neger", das ein Neo-Nazi sowohl in Peter Richters autobiografischem Roman wie auch in der Bühnenfassung benutzt – dafür aber sofort von der Hauptfigur kritisiert wird.

Ausgebeepter Rassismus

Oberender hätte die fraglichen Sätze gern komplett gestrichen – aber da die Inszenierung in einem genauen musikalischen Rhythmus verläuft, behalf man sich damit, den Schauspieler "Beep" sagen zu lassen. Die überrumpelte Regisseurin willigte ein – hält die Änderung aber für falsch.
"Dieses Stück dreht sich einfach um den aufkeimenden Rechtsextremismus in der verendenden DDR. Wenn man damit bewusst umgeht und sagt: Eine Figur ist ein Rassist – dann muss man den doch genau so zeigen können. Also: Was nützt uns an dieser Stelle Political Correctness?"
Weder beim Publikumsgespräch nach der Aufführung noch in der öffentlichen Jury-Diskussion war das Eingreifen von oben ein Thema – allein durch den Bericht der jungen Journalisten des hausinternen Theatertreffen-Blogs wurde der Vorgang überhaupt bekannt.

Der Schutz von Traumatisierten habe Vorrang

Frage an Thomas Oberender: Wieso darf ein Rassist auf der Bühne keine rassistischen Begriffe benutzen?
"Weil auch beste Absichten und Kontextualisierungen dieser Art nicht vermeiden oder verhindern können, dass Leute, die traumatische Erfahrungen mit der Verwendung dieser Begriffe haben, dadurch verletzt und gekränkt werden."
Dr. Thomas Oberender, Intendant der Berliner Festspiele
Thomas Oberender, Intendant der Berliner Festspiele© Magdalena Lepka
Sein Haus, so Oberender, setze sich schon lange mit diesen Themen auseinander – und der Umgang der Leipziger Inszenierung damit sei schlicht zu unreflektiert.
Die "Betroffenen" allerdings, die Oberender schützen will, sehen das differenzierter. Der Regisseur Atif Hussein, selbst in der DDR aufgewachsen und Unterstützer der Berliner Aktivisten-Gruppe "Bühnenwatch", sagt zwar: "Es hätte mich natürlich verletzt. Und ich hätte einordnen müssen, wo es hingehört." Protestiert hätte er aber nicht:
"Es ist Figurenrede, es dient der Kennzeichnung der Figur. Weil das, wofür die Figur steht, wird gerade hier verhandelt."

Vorauseilender Gehorsam?

Agiert die Festspielleitung hier also in vorauseilendem Gehorsam, weil das Theatertreffen 2013 für eine Inszenierung, bei der sich eine weiße Schauspielerin schwarz anmalte, von Bühnenwatch-Aktivisten unter Beschuss geriet?
Oder meint sie tatsächlich, dass es Sprechverbote auch für Kunstfiguren geben muss? Dann allerdings hätte Bauers Inszenierung gar nicht gezeigt werden dürfen – denn darin werden nicht nur Schwarze beleidigt, sondern auch Asiaten und Frauen. Ja, sagt Oberender, man hätte mehr beepen oder uminszenieren müssen – doch dafür sei schlicht nicht genügend Zeit gewesen.
Aber wäre die fatale Konsequenz dann nicht, dass auf dem Theater nichts Unzivilisiertes, nichts Böses mehr gesprochen werden darf? Das Theater als rundum hygienischer Ort, Verletzungsgefahr ausgeschlossen?

Die Bühne als Ort gesellschaftlicher Reflektion

Roger Vontobel, derzeit Hausregisseur in Bochum und 2010 selbst beim Theatertreffen zu Gast, erhebt da vehement Einspruch. Das Theater, sagt er, muss auch Geschichte und Geschichten zeigen dürfen, die unseren offenen und versteckten Rassismen einen Spiegel vorhalten. Man könne und dürfe diese Wirklichkeit nicht verdrängen.
"Ich kann jemanden umbringen, auf die brutalste Art und Weise, ohne dass es wirklich passiert. Aber so, dass der Mensch, der zuschaut, darüber reflektieren kann. Dass er es verabscheuungswürdig findet, dass ein Mensch mit einem anderen Menschen so umgeht. Genauso, wie er es möglicherweise auch verabscheuungswürdig findet und möglicherweise auch verletzend findet, dass ein Mensch auf der Bühne zu einem anderen Menschen 'Neger' sagt. Ja, er macht was mit den Menschen, die zugucken – aber das soll er ja auch. Und danach können wir uns ja darüber aufregen, darüber diskutieren."
Der 40-jährige Vontobel hat in Bochum gerade Bernhard-Marie Koltès' Stück "Der Kampf des Negers und der Hunde" inszeniert. In Bochum eine gefeierte Aufführung. Im Internet, auf der Diskursplattform Nachtkritik.de, hat das prompt wieder zu Diskussionen geführt, ob man den Titel des Stücks ausschreiben darf, ob man ihn umbenennen sollte – oder ob nicht das ganze Stück mittlerweile auf den Müll gehört.

Schöne, neue Welt?

Auch Atif Hussein würde gern den einen oder anderen Klassiker abschaffen: "Othello! Packt’s doch ins Museum!" Bei solchen Sätzen platzt Vontobel endgültig der Kragen:
"Nein, was ist denn da los! Ich versteh die Welt nicht mehr! Ich finde das absurd! Auf dieser Debattenebene würde ich sagen: Bitte holt euch Brave New World von Aldous Huxley, lest es, und dann lasst uns noch mal drüber reden. Wir verlieren Gedankengut. Wir verlieren alles. Wir verlieren unsere Wurzeln, unsere Reflexionsfähigkeit, wenn wir das alles zensieren."
Abseits der Bühne, da sind sich alle zu Recht einig, muss die Gesellschaft sich um einen nicht verletzenden Umgang von Mensch zu Mensch bemühen. Man muss aber die Frage stellen, ob es nicht bedenklich ist, wenn jetzt selbst Kunstinstitutionen durch Selbstzensur der Kunst den Freiraum nehmen wollen, den sie braucht, um uns auf der Bühne mit den bösen Anteilen der Realität zu konfrontieren.
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