Gesine Palmer, geboren 1960 in Schleswig-Holstein, studierte Pädagogik, evangelische Theologie, Judaistik und allgemeine Religionsgeschichte in Lüneburg, Hamburg, Jerusalem und Berlin. Nach mehrjähriger wissenschaftlicher Lehr- und Forschungstätigkeit gründete die Religionsphilosophin 2007 das "Büro für besondere Texte" und arbeitet seither als Autorin, aber auch als Redenschreiberin, Trauerrednerin und Beraterin. Ihr wiederkehrendes Thema sind "Religion, Psychologie und Ethik" – im Kleinklein der menschlichen Beziehungen wie im Großgroß der Politik.
Die Kunst der Anderen
Menschen, die Spuren in der Geschichte hinterlassen, würdigt das Kino mit Biopics: Aber was sind eigentlich die Rechte derer, deren Leben hier zum Material für die Kunst wird? Und wie gehen wir als Publikum erwachsen mit den schönen Narrativen um?
Kürzlich haben wir "100 Jahre Copyright" gefeiert. Seit es die Autorenkunst gibt, gibt es ja Streit um die Rechte an Ideen. Und seit Geschichten von lebenden und historischen Figuren erzählt werden, gibt es außerdem Streit um die Rechte an der eigenen Lebensgeschichte. Nun hat ausgerechnet der Regisseur des Überwachungsfilms "Das Leben der Anderen" einen Künstler- und Nazifilm gedreht, in dem er offenkundig mit großer künstlerischer Freiheit auf das, was er vom Leben eines der ganz großen deutschen "Malerfürsten" zu wissen glaubt, zu- und zurückgreift.
Darf er das, und wenn ja, warum nicht?
Wahrheit und Fiktion
Juristisch ist die Sache völlig klar: er darf. In der offenen Gesellschaft darf jeder jede Geschichte erzählen. In einer Dokumentation mit wirklichen Fakten und Klarnamen über wirkliche Personen muss man sich eng an die Tatsachenwahrheit halten. Dabei können Aufklärungsinteressen und Persönlichkeitsrechte Betroffener zuweilen gegeneinanderstehen. Wer sich in einer Dokumentation falsch dargestellt oder verunglimpft sieht, darf sich wehren und die Verbreitung ggf. unterbinden.
Anders verhält sich die Sache bei fiktionalen Arbeiten: Schriftsteller*innen beziehen immer ihre Anregungen aus allen möglichen Geschichten von allen möglichen Menschen – und sie machen ihre je eigene Story daraus. Tatsächlich wollen wir als Autor*innen ja genau das erreichen: dass die Leute sich wiedererkennen in dem Stoff! Dass sie unsere Gedanken dazu ganz nah an sich heranlassen.
Das Leben als Material für die Kunst
Was aber, wenn der Stoff ein "Biopic" aus dem Leben besonders bekannter Persönlichkeiten ist? Juristisch bleibt die Lage unverändert. Alles darf erzählt werden.
Der Künstler im fraglichen Film arbeitet mit realen Fotos fremder Menschen und macht durch eine bestimmte Technik seine Kunst daraus – das macht er genau, wie der bekannte Künstler unserer Tage. Im Film wird gerade diese Technik der Aneignung von Alltagsfotos durch den Künstler zu einer Verdichtung des Plots genutzt. Maler und Regisseur – sie beide sind Künstler. Die künstlerische Arbeit macht aus dem Leben und der Arbeit anderer Material - und sie macht den Macher der Kunst zum Künstler.
Folgerichtig findet die Auseinandersetzung über den Film "Werk ohne Autor" nun auch nur auf der künstlerischen Ebene statt. "Zu reißerisch", sagt der Maler, an dessen Leben und Werk das verfilmte Malerschicksal stark erinnert. Mehr als den Trailer werde er nicht sehen. Verständlich ist das allemal. Aber was sagt uns der Vorgang eigentlich über den angemessenen Umgang mit der Tatsache, dass wirklich jeder Mensch mit seiner Geschichte Material für die Kunst von anderen werden kann?
In Geschichten erfährt man vor allem etwas über sich selbst
Ich würde das gern entdramatisieren. Wir Menschen beäugen einander mit Neugierde und Urteilslust. Diskretion ist schön – aber nichts an sich Gutes. Das haben wir etwa in Missbrauchsskandalen erfahren.
Wichtiger scheint mir, dass auch das Publikum souveräner mit dem Unterschied von Dokumentation und Fiktion umzugehen lernt: Eine Dokumentation muss faktenhistorisch genau sein. Ein historischer Roman und sein filmisches Äquivalent hingegen müssen höchstens Standards der emotionalen Plausibilität genügen. Sie sollen die Sache idealerweise so schildern, dass jeder Zuschauer in sich selbst den möglichen Künstler, den möglichen Nazi-Arzt, die mögliche Geisteskranke und die mögliche By-Standerin entdecken könnte.
An diesem Problem kann ein Film künstlerisch scheitern. Gegen schlecht erzählte Geschichten helfen dann nur besser erzählte Geschichten. Vor allem aber sollte niemand, der eine mehr oder weniger gut erzählte Geschichte über irgendwen konsumiert hat, glauben, er wisse nun mehr über die Person. Wenn es eine wirklich gut erzählte Geschichte war, weiß er allenfalls mehr über sich selbst.