Werner Hofmann: Die Schönheit ist eine Linie
13 Variationen über ein Thema
C.H. Beck, München 2014
208 Seiten, 29,95 Euro Euro
Das Geheimnis der Schönheit
Die geschwungene Linie von der Höhlenmalerei bis zu Duchamp und Hundertwasser: In einem großen, posthum erschienenen Essay geht der Kunsthistoriker Werner Hofmann ihrer Geschichte nach - und erklärt ihre reiche Symbolik.
"Es bedurfte längst einer neuen Analyse der Schönheit". In Alan Hollinghursts Roman "Die Schönheitslinie" schießt dem Protagonisten Nick Guest plötzlich dieser Satz durch den Kopf. Die gekrümmte Rückenlinie seines Liebhabers verkörperte für den jungen Mann genau die gewundene Schlangenlinie, die der britische Maler William Hogarth seinem Standardwerk "Analysis of Beauty" als Metapher vorangestellt hatte.
Das Beispiel demonstriert die Persistenz der Idee, die "S-Linie" sei der Schlüssel zum Geheimnis der Schönheit. Hollinghursts Roman stammt aus dem Jahr 2005, Hogarths Werk erschien 1753. Es ist also mehr als eine persönliche Grille, wenn Werner Hofmann diesem Komplex ein ganzes Buch gewidmet hat. Gleich zu Beginn seiner 13 Variationen zu dem Titel "Die Schönheit ist eine Linie" zitiert er den französischen Maler Charles Alphonse Dufresnoy mit dem Satz: "Eine schöne Figur und ihre Teile müssen immer eine schlangenförmige und flammende Form haben."
Das Buch ist eine Art Vermächtnis des 1928 in Wien geborenen Kunsthistorikers, der von 1969 bis 1990 die Hamburger Kunsthalle leitete und mit Ausstellungen zu Caspar David Friedrich bis Georg Baselitz europäische Ausstellungsgeschichte schrieb. Das Manuskript wurde nach seinem Tod 2013 aus dem Nachlass ediert. Darin schlägt Hofmann den Bogen von der aquitanischen Höhlenmalerei bis zu der "endlosen Linie", mit der der Künstler Friedensreich Hundertwasser 1959 die Wände eines Ateliers der Hamburger Kunsthochschule überzog.
Gewöhnungsbedürftig für die Postmoderne
Hofmann entdeckt die Schönheitslinie in der kreisenden Sonne von Van Goghs "Sternennacht" von 1889, in Marcel Duchamps "Urinoir" von 1917 und sogar in der Großplastik "Berlin" des Künstlerpaars Matschinsky-Denninghoff von 1987. Sie fasziniert ihn als Zwitter aus Gegenständlichkeit und Abstraktion, Erfindung und Nachahmung. Ihren symbolischen Ausdruck findet sie in der Schlange, dem Zwitterwesen zwischen Gut und Böse: Einmal ist sie die Heilsbringerin des Äskulapstabes, einmal die Schauerkreatur, die dem Medusenhaupt entweicht.
Hofmann jagt in seinem Essay nicht der Hogartschen Zauberformel nach. Für den erhob sich die S-Linie über der "Variety", der Vielfalt des irdischen Lebens. Gegen dieses statische Symbol absoluter Schönheit setzt sein moderner Wiedergänger die S-Linie als "offenes System". Er sieht sie in der Spirale und der Zickzacklinie. Für ihn bewegt sich das flexible Konstrukt "außerhalb der Stilvokabulare". Ihre Vieldeutigkeit und ihre Ambivalenz bilden für ihn das "konstituierende Merkmal künstlerischer Weltaneignung".
Für den postmodernen Kunstwissenschaftler von heute ist Hofmanns Werk gewöhnungsbedürftig. Im Duktus begegnet er einem humanistisch geprägten Kunsthistoriker alter Schule. Dennoch begeistert, wie souverän der legendäre Museumsmann darin alle Register der Kunst-, Kultur- und Geistesgeschichte zieht. Seine Tour de Force durch das historische lohnt sich. Hofmanns "Analysis of Beauty", mündet in der überraschend zeitgenössischen Definition von der "S-Linie" als "Möglichkeitsform par excellence".